Vernunft

Daniel Szücs für #kkl48 „Vernunft“




Vernunft

Ein nebeliger Nachmittag, schneidender Wind. Ein Flussufer, zahlreiche spielende Möwen.  
Andre. Karierte Hose, Hände in den Hosentaschen der schwarzen Jacke versteckt. Die Silhouette einer großen gotischen Kirche auf der anderen Flussseite. Die Unruhe angelegter Boote auf der Wasseroberfläche. Ein wortkarger Mann mit dickem Panzer auf der Oberfläche. Was sich darunter befand, wussten nur wenige.

Brücken über dem Fluss nach der Reihe: eine mit Drachenstatuen; eine mit großen Türmen; eine im postmodernen Stil, die meisten mit Verkehr und eine für Fußgänger. Er musste auf die andere Seite. Musste? Er wollte! Er wollte es ihnen zeigen. Wem? Ihnen! Der Welt. Den Drachen, den Türmen, dem Dieselmotor vom Doppeldecker, der auf der Straßenebene über seinem Kopf vorbeifuhr, den schwangeren Zwillingen, die ihm am Ufer entgegenkamen. Dem Graffiti auf der Ziegelsteinmauer, dessen Buchstaben an mehreren Stellen einen Arsch formten. Er kann auf die andere Seite und er kann sogar noch weiter. Er braucht keine U-Bahn, wenn er will. Die Straßen, die er noch nie gesehen hatte, erkunden, zigtausende Schritte machen und ohne anzuhalten weitergehen. Er war kein geduldiger Mensch und vertrug, so gut wie keine Kritik. Wenn man dies respektierte kam man mit Andre klar. Er hatte lange gekämpft, um eine hohe Position zu erreichen, trotzdem war er mit seinem Job nicht zufrieden. Er kam nie zur Ruhe, aber woher er diese Mentalität hatte, hinterfragte er nie.

Die Straßenlaternen öffneten gähnend ihre Augen und kratzten grelle Lichtstreifen auf das Wasser. Der Nebel fing an leicht zu nieseln. Ein Entenpaar murmelte sein abendliches Geflüster und eilte mit seinen gelben Gummistiefeln davon, als Andre den kleinen Wesen den Weg kreuzte. Eine Treppe voller Müll und nasser Nebelschleim. Brückenkopf mit verziertem Bauwerk. Taxis, Radfahrer, hupen, klingeln, dröhnen und summen. Er ging auf die Brücke und schaute auf ein Boot mit Glasdach hinab. Blitze zahlreicher Kameras blendeten seine Sicht, bis sie unter dem Brückenbogen verschwanden. Eine Bucht in der Mitte der Brücke mit Steinbank. Bierflaschen klirrten, Jugendliche feierten den Abend, dessen Temperaturen eher Cognac erfordert hätten.

Hellbraune Blätter, an den Sandsteinplatten festgeklebt. Platanenblätter waren sie, erkannte Andre. Die andere Flussseite. Eine Zweispurige Einbahnstraße, rote Ampel. Fünf und sechsstöckige Gebäude erhoben sich ihm gegenüber. Links oben ein französischer Balkon, jemand lehnte sich gegen das Geländer und schaute in die Ferne über den Dächern. Bald erschien eine zweite Person und stellte sich direkt neben sie. Man ist nie alleine, dachte Andre. Auch wenn man glaubt, dass keine Menschenseele da sei, gibt es immer jemanden, der da ist oder da war und seine Spuren hinterließ. Prägende Erinnerungen, Ereignisse, die sich nicht auslöschen lassen. Gesichter, die durch eine markante Nase oder weißen Bart die Illusion, dass man sich an sie ganz genau erinnere, vervollständigen. Ein Spielplatz. Eine Tasse lauwarmer Milch. Eine Ohrfeige. Der erste Kuss am hintersten Sitz im Bus. Um das Licht kreisende Insekten am See, streitende Eltern im Weekendhaus. Der kalte Luftzug in der Früh, während er sich die Zähne geputzt hatte. Die Matura, Die Universität. Der Umzug, vergangene Lieben, weitere Umzüge, das erste Auto, das nächste Auto, die ersten Schmerzen am Rücken, die ersten Leberflecken. Die Hupe einer Lokomotive. Und der Lockdown. Während der Pandemie fielen die Züge tagelang aus, und er vermisste ihr Warnsignal am benachbarten Bahnhof. Gegen ihren Willen eingesperrte Menschen, die an der ausgekühlten Liebe zerrten. Die Nachrichten berichteten von häuslicher Gewalt. Gebrochenes, Angeschwollenes, Blutergüsse und Rötungen. Sie verschwanden langsam, wie Lügen im Wind, aber ihre Spuren, da drinnen, tief im Herzen vieler Menschen, blieben für immer. Und die Zeit ändert nichts. Gar nichts.

Grün. Eilige Tritte überholten ihn, ein Cargo Bike jonglierte sich durch die Menschenmenge.

Barbershop an der Ecke. Andre blickte neidisch hinein –, er werde nie einen Vollbart oder einen makellosen Haaransatz haben. Er überquerte die Straße, bog rechts ein und betrat die Einkaufspassage. Die Geschäfte waren teils zu, die Restaurants noch alle offen. Glänzende, flackernde, bunte Versprechen hinter den Glasscheiben, Versprechen, die sich nie erfüllen werden. Ein Geruchsmischung aus angerösteter Zwiebel, Cocktails und süßem Parfüm.

»Entschuldigen Sie, Junger Mann!«

Andre blieb stehen. Junger Mann, er? Redete jemand mit ihm?

»Hallo!«, und man zog an seinen Ärmel. Er drehte sich um und senkte seinen Blick.

Eine alte Frau Anfang siebzig. Sie deutete auf ein Display hin, wo sie ihr Essen bestellen musste, um im Restaurant bedient zu werden.

»Meine Brille liegt zuhause, wissen Sie.« Andre hörte ihr zu und suchte ihr das Schnitzel sowie ein kleines Bier aus. Und Preiselbeermarmelade dazu, unbedingt, betonte die Frau mehrmals. Und die Petersilienkartoffeln, ja, nicht vergessen.

»Hier der Zettel. Mahlzeit.« Die Frau bedankte sich für seine große Hilfe ganz herzlich, Andre legte ihr die Hand sanft auf die Schulter und ging. Alte Damen sind sehr nett, dachte er. Wäre die ganze Welt so wie sie… Sein Vater lobte ihn nie. Als er promoviert hatte, war sein einziger Kommentar:

»Warum bist du jetzt Doktor geworden, wenn du nicht operieren kannst?«

Das war das letzte Mal, als er ihn sah. Er dachte nicht daran, sich rechtfertigen zu müssen, warum man so einen Titel erhält, sollte man die nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und seinen Einfluss auf die soziale Sicherheit jahrelang untersucht haben. Das imaginäre Wasserglas seiner Beleidigungen war längst überfüllt, und er machte die Tür hinter sich zu ohne zurückzublicken. Das war vor sechszehn Jahren.

 Er verließ die Einkaufspassage am anderen Ende. In der Zwischenzeit hatte es angefangen zu regnen, und eine schwarze Decke überzog langsam die Stadtlandschaft. Er setzte sich eine orangefarbene Mütze auf den Kopf – ein Werbegeschenk von einem Unternehmen, das Universitäten mit Büromaterial versorgte. Sei ein Mann! Widerhallte die autoritäre Stimme in seinem Kopf. Ich bin einer, siehst du mich? Natürlich nicht. Gut so.

Kleine Gartenhäuser, alle zweistöckig, eng nebeneinander gebaut. Im Vorgarten standen bekümmerte Sträucher, die auf einen baldigen Frühling hofften. Rechts vorne, ein großes Fenster im Erdgeschoss. Im Haus brannte das Licht; man sah nur ein deckengroßes Bücherregal und vermutete eine angenehme Stimmung der Bewohner. Ob man jedes Buch gelesen hat?, fragte Andre sich.

Es ging nach links, ein Kreisverkehr, in der Mitte frisch bepflanzt mit robusten Pflanzen, die die Kälte ertrugen. Rundherum weiße Holzhäuser. Wie jene in Schweden, damals mit Celine. Es ist vier Jahre her, dachte er. Sie hatte ein halbes Jahr später mit ihm Schluss gemacht.

»Du bist, wie ein Stahlfass, gefüllt mit brennendem Benzin: du ziehst die Blicke auf dich und man kommt dir neugierig und hoffnungsvoll näher, um deine Wärme wahrzunehmen. Aber sobald man dir zu nah steht, spürt man, dass etwas nicht stimmt, dass etwas stinkt und macht man einen weiteren Schritt nach vorne, verbrennt man sich. Du brauchst Hilfe! Rede mit jemandem, wenn du mit mir nicht reden kannst!«

»Ich brauche keinen Psychologen. Ich habe ihm nichts zu sagen!« erwiderte er.

»Wirklich!? Gar nichts?« und sie ging für immer.

Er kam an einem Kanal an, überquerte die Brücke, und erblickte ein großes Plakat mit einem Maultier. Es handelte sich dabei um die männliche Gesundheit und um ein Produkt, das sie langfristig garantiere. Er ging durch den Park, wo ein paar dunkle Umrisse mit heller Miene Pétanque spielten. Ein junges Pärchen kam ihm entgegen, die Frau beschwerte sich bekümmert über ihre Lage:

»Sie ist dement, sie kann sich nicht ihr Leben selber in die Hand nehmen. Aber ich muss arbeiten! Mama ist nicht da, Papa ist nicht da, was soll ich tun?«

Der Mann neben ihr, vermutlich ihr Freund, schwieg, denn er hatte auch keine Lösung für sie.

Papa ist nicht da… Papa war nie da, dachte Andre. Doch, als er mit funkelnden Augen den Strohbesen holte –, aus welchem Anlass, war in der Regel egal, er fand immer einen. Für schlechte Noten, für weniger gute Noten, für vergessene oder versäumte Verpflichtungen, für das dreckige Zimmer, fürs spät in der Nacht aufs WC Gehen. Und er schlug einmal, zweimal, fünfmal zu. Der Besen rutschte häufig in seiner Hand, gewollt oder ungewollt, sodass Andre die Schläge mehrmals mit dem Besenstiel bekam. Am nächsten Tag in der Schule behauptete er natürlich, dass er vom Fahrrad gefallen sei. Als der Klassenvorstand nach mehreren solchen Fällen seine Mutter anrief, wischte sie sich die Tränen vom Gesicht und meinte, Andre sei leider etwas tollpatschig. Sie hatten in ununterbrochener Angst gelebt, bis Mama zu seinem fünfzehnten Geburtstag bekannt gab, sie habe in den letzten Jahren genug Ersparnisse auf die Seite gelegt und sie ziehen zu zweit um. Andres Vater wurde erst mit der Tatsache konfrontiert, als drei Freundinnen seiner Frau erschienen. Wutperlen bildeten sich auf seiner Schläfe, jedoch erkannte er, dass er gegen fünf – vier Frauen und den mittlerweile genauso großen Andre wie er – unterlegen war. Er schlug die Tür zu, und kam erst viel später zurück, als die Wohnung bereits halb leer war. Die Gegenstände, die für ein neues Leben dienen sollten, waren bereits auf einen LKW geladen. Andres Mutter schaute in der Küche nochmal um, nahm die Hand ihres Sohnes, spuckte in die Mitte des Wohnzimmers, wo sein Vater stand und ging in Begleitung ihrer Freundinnen im Stiegenhaus hinab zum neuen Leben.

Erst dieses Spucken von seiner warmherzigen Mutter, die nie die Stimme gehoben, die immer für den Zusammenhalt der Familie gearbeitet hatte, bestätigte Andre, dass sein Verhalten als Kind nicht schuld an der Gewalttätigkeit seines Vaters gewesen war, jedoch blieb eine tiefwurzelnde Narbe in seiner Seele für immer.

Ein dunkler Schatten im Geäst. Eine Krähe. Sie ließ eine Nuss zu Boden fallen, jedoch brach die Schale nicht. Andre schaute empor, trat leicht darauf, nickte dem Vogel mit einer bitte sehr zu und ging weiter. Er holte eine große Frau mit weißem Kopfhörer und pinker Daunenjacke ein. Ob sie sich bedroht fühlte oder tatsächlich nach rechts gehen musste, wusste Andre nicht, aber er wollte ihr keine Furcht einjagen und er ging geradeaus weiter. Eine U-Bahnbrücke, darunter eine Kreuzung. Direkt unter der Brücke ein Kiosk auf der einen und ein Blumengeschäft auf der anderen Seite, beide bereits leer, finster.

Er hatte nach dem Umzug jahrelang keinen Kontakt mehr zu seinem Vater gehabt. Er studierte schon, als er ihn wieder besuchte. Das Treffen ging schief, da der mittlerweile ältere Mann nichts mit der Gesellschaft seines Sohnes anfangen konnte, und Andre war nicht reif genug, um mit seinem Vater auf Augenhöhe umzugehen. Weitere Begegnungen zwischen Vater und Sohn waren bis auf ein paar kurze, notwendige Besuche wegen eines verstorbenen Familienmitglieds ausgeblieben, jedoch erhielt Andre in den letzten Jahren immer eine Postkarte zu seinem Geburtstag von seinem Vater. Alles Gute, Andre! Außer dem Datum und seiner Adresse stand nichts mehr darauf, jedoch erkannte er seine Schrift. Er blieb nur kurz mit einem schadenfreudigen Lächeln im Gesicht am Straßenrand stehen, bevor er sie überquert hätte:

»Du wagst nicht, mich als deinen Sohn zu nennen, deshalb schreibst du immer nur meinen Vornamen, nicht wahr?«

Er hob das linke Bein und wollte gerade auf die Fahrbahn treten, als ein Auto voller Wucht vorbeiraste und ihn leicht streifte. Es fuhr über die Kreuzung, ungebremst ins Schaufenster vom Floristikgeschäft und hinterließ dort, mit einem enormen Knall, eine Verwüstung aus zerschelltem Glas, herumliegender Pflanzenerde und tausenden, bunten Blumenblättern.

Andre schauderte es als er erkannte, dass er beinahe ums Leben gekommen war. Trotzdem zögerte er nicht lange und ging mit zitternden Beinen zum Auto. Der Fahrer, ein alter Mann, saß alleine im Fahrzeug. Der Airbag hat ihm das Leben gerettet –, er war bei sich aber er blutete leicht am Kopf. Andre öffnete den Kofferraum und suchte unter den herumgeflogenen Gegenständen die Erste Hilfe Tasche. Als er sie fand, zog er die Gummihandschuhe an, säuberte die Wunde des Mannes und verband sie. Der Mann war unter Schock und murmelte immer wieder falsches Pedal vor sich hin. Mittlerweile standen mehrere Schaulustige vor dem Geschäft und machten Fotos mit ihrem Handy.

»Hey, hat wer die Rettung schon angerufen?«

Sie erwachten, wie von einem Traum und blickten aufeinander, bis eine junge Frau die Nummer eintippte. Andre blieb beim alten Mann, jedoch tat oder sagte er nichts. Der Mann war versorgt, mehr konnte er nicht tun außer seinen Zustand bis zum Eintreffen der Hilfe im Auge zu behalten. Drei Autos kamen; die Feuerwehr, um den Mann aus seinem Auto zu befreien, die Rettung, um ihn weiter zu versorgen und die Polizei, um die Unfallursache zu erheben.

Andre blieb, solange seine Anwesenheit vonnöten war. Als er aus gewisser Entfernung zurückblickte, fiel ihm ein, dass er kein einziges Mal in die Augen des alten Mannes geschaut hatte. Er drehte sich um, ging weiter und nach ein paar Schritten blieb er mit einem Krampf im Magen stehen. Er fluchte und übergab sich über der nächsten Entwässerungsöffnung. Im Kofferraum des Unfallfahrzeugs war ein Strohbesen gelegen.

Das leichte Nieseln ließ nach, die Wolken rissen auf und die stärksten Sterne trotzten der Straßenbeleuchtung. Andre hob sich wieder und bewegte sich in Richtung der nächsten U-Bahnhaltestelle, wo sich vier bis sechsstöckige Altbauhäuser türmten. Es war spät geworden und er fühlte sich aufgewühlt –, sein Pilgern würde er ein anderes Mal fortsetzen.

Vor einem Gebäude standen mehrere Menschen. Buntes Licht drang durch die großen Fenster auf den Asphalt. Es war ein Lokal. Andre überlegte, ob ein Drink seinen Schlaf erleichtern könnte und trat hinein. Der Raum hatte eine bunte Möblierung, als wäre er irgendwo in Südamerika. Er nahm direkt an der Theke Platz. Die Musik war laut und etwas zu modern für seinen Geschmack, deshalb plante er nicht lange zu bleiben und ließ seine Mütze und Jacke an. Während er auf seinen Drink wartete, schaute er im Raum um. Er war klein und so gut wie voll. An der Wand hingen schwarz-weiße Bilder von einer Destillerie. Er musste nicht lange auf seinen smoked Whisky ohne Eis warten. Er nippte daran und schaute der Barkeeperin nach, einer hübschen schwarzhaarigen Frau, die den ganzen Raum, etwa dreißig, fünfunddreißig Personen alleine bediente. Das Sitzen tat ihm gut und sein Magen beruhigte sich langsam. Er ließ seinen Blick auf den vollen Spirituosenflaschen hinter der Theke ruhen, die von unten beleuchtet wurden und versuchte, vergebens, ihre Marke zu erraten.

Plötzlich klopfte jemand mit unangenehmer Kraft auf seine Schulter. Er drehte sich empört um, und sah einen stark alkoholisierten Mann, der auf seine Mütze hindeutete. Er verstand ihn nicht wegen der lauten Musik und lehnte sich näher. Der Mann, klein und dick, fing nochmal an, aber er fasste sich kürzer. Andre verstand meist Schimpfwörter zu seiner Person und zum Fußballclub, der die gleiche Farbe wie seine Mütze haben sollte. Er schüttelte den Kopf, und meinte, er sei kein Fußballfan, aber der andere hörte ihm nicht zu:

»Doch, doch, ihr seid alle Wichser!« Andre hob kapitulierend beide Hände und schüttelte den Kopf, um zu zeigen, er habe nicht vor zu streiten. Der kleine Dicke verschwand in der Menschenmenge. Andre dachte, das unangenehme Gespräch sei vorbei, aber der Dicke kam innerhalb einer Minute mit zwei anderen zurück und bohrte seinen Finger in Andres Rücken:

»Duuu, Wichser! Du hast mich nicht verstanden! Du legst dich mit den Falschen an!«

Andre schaute auf die zwei Begleiter, die auch vor ihm standen. Sie waren eindeutig zu besoffen, um ohne die Hilfe eines Tisches oder Barhockers stehen zu bleiben. Ihre Miene verriet ihm, dass sie nur ihren Freund begleiten wollten, aber nicht kampflustig waren und würden bei einer etwaigen Prügelei sofort zu flüchten versuchen. Der Dicke war ihm weit unterlegen und die weiteren Gäste im Raum, die die Szene beobachteten, schauten verachtend auf den kleinen Aggressoren. Andre schüttelte nochmals den Kopf und sagte laut, er suche keinen Streit, das sei ein Missverständnis, diese Münze sei nur ein…

»Duu, Wichser! Du hast Angst gekriegt, nicht wahr? Sei ein Mann und steh auf!«

Andre erstarrte und alle seine Gefühle verschwanden. Die Zeit blieb plötzlich wie erfroren. Ich kann es beenden, dachte er. Er schaute auf sein Gegenüber, der ihn nun fest an der Jacke packte. Ihm war es klar, dass er nüchtern genug war, um ihn mit einem einzigen gezielten Schlag ins Krankenhaus zu schicken. Er erinnerte sich an die letzten Treffen mit seinem Vater, wo er ihm eindeutig überlegen war, wo er ihn ohne Zweifel hätte bezwingen können – hätte der mittlerweile alte Mann ihm einen Anlass gegeben.

»Sei ein Mann!« schrie der Dicke noch lauter. Andre spürte Speicheltropfen auf seinem Gesicht landen. Der Dicke zog an seiner Jacke, noch stärker, sodass ihm das Kippen mit dem Barhocker drohte. Ich kann es endlich beenden, dachte er, schlug das Whiskyglas auf die Thekenplatte und hob sich mit voller Wucht vom Hocker.

Er las seinen eigenen Nachnamen am Schild und klingelte dort. Das Licht ging an und ein kleiner Mann, Mitte achtzig öffnete die Tür. Er trug einen Dreitagebart und etwas Misstrauen, als er noch nicht wusste, wer sein Besucher war. Seine Augen hellten sich auf, als er seinen Sohn erkannte. Der alte Mann nickte, fast unauffällig, öffnete sperrangelweit die Tür und stellte sich einladend auf die Seite, aber Andre ging nicht sofort hinein. Er trat ihm näher und umarmte ihn fest.




Daniel Szücs

Daniel.szucs@gmx.at

Daniel Szücs wurde 1989 in Budapest, Ungarn geboren; er zog vor 10 Jahren durch das Masterstudium in Landschaftsarchitektur nach Österreich. Derzeit ist er wohnhaft in Linz in Oberösterreich.

Er besuchte bereits in Ungarn einen Literaturkurs (Péterfy Akedemie gegründet vom Schriftsteller Gergely Péterfy) und schrieb seine ersten Kurzgeschichten, die in der ungarischen Sprache veröffentlicht wurden (zu finden sind diese unter folgendem Link: https://felho.cafe/?s=sz%C3%BCcs+d%C3%A1niel).

Er möchte nun auch auf deutscher Sprache Geschichten verfassen. Er ist ein leidenschaftlicher Bücherwurm, Bewunderer klassischer und japanischer Literatur. Sein großer Traum ist es einen Roman zu veröffentlichen.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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