Gelegenheit macht Diebe

Monika Schlößer für #kkl48 „Vernunft“




Gelegenheit macht Diebe

Wie konnte Kathi nur so arglos sein und ihrer Kollegin erlauben, in den alten Pflaumenbaum zu klettern? Wenn sie bloß Jennifers Bitte abgeschlagen hätte! Dann wäre die Tragödie womöglich zu verhindern gewesen. Und die Vögel hätten sich auch im kommenden Jahr wieder an den restlichen Früchten sattfressen können.

Teilnahmslos stand die aparte 32-jährige am Rand ihres großen Gartens und schaute Jennifer dabei zu, wie sie mit eiligen Schritten die schwere Holzleiter zum Pflaumenbaum trug, um geschmeidig wie eine junge Katze in die Äste zu klettern.

‚Ich sollte es nicht erlauben‘, dachte Kathi noch, während ein ungestümer Westwind ihre blonde Wuschelmähne zerzauste. Trotzig warf sie den Kopf zurück und ließ ihren Blick wandern. Sie nahm durchaus die rabenschwarzen Vögel wahr, die bedrohlich nah über Jennifers Kopf kreisten. Mit einem unergründlichen Lächeln im Gesicht lauschte sie dem lauten Gekreische.

„Lass es nicht zu!“, hörte Kathi es rufen und merkte nicht, dass eine innere Stimme an ihre Vernunft appellierte. Tatenlos blickte sie den Staren hinterher, die sich zu einer immer dichter werdenden dunklen Wolke formiert hatten.

Einerseits fand Kathi es jeden Herbst aufs Neue faszinierend, wenn dieser Pulk aus über hundert Staren plötzlich und ohne Vorwarnung wie eine Urgewalt mit wildem Flügelschlag herangeschwirrt kam, um laut kreischend über ihren Pflaumenbaum herzufallen und ihn ratzfatz leer zu plündern. Andererseits amüsierte es sie nun, der jüngeren Kollegin dabei zuzuschauen, wie diese flink und zielstrebig die überreifen Früchte pflückte, um zuhause davon Mus zu kochen.

Jennifer bedankte sich überschwänglich für die reiche Ausbeute und redete dann, so wie es ihre Art war, ohne Punkt und Komma und ohne Luft zu holen in langen monotonen Sätzen auf Kathi ein.

Natürlich sei es viel gesünder rohes Obst zu verzehren aber es ließe sich auf Dauer nicht gut aufbewahren und man müsse für den Winter vorsorgen auch dürfe man das gute Obst nicht einfach verderben lassen dazu sei es viel zu kostbar – meinte Jennifer anfangs. Irgendwann hatte Kathi ihre Ohren zugeklappt und überhaupt nicht mehr hingehört. Das war ein verhängnisvoller Fehler, wie sich im Nachhinein zeigen sollte.

Es wäre vernünftiger gewesen, die feinen Untertöne, die Jennifer zwischen Mus und Müsli, Dörrobst und Körnermühle flötete, nicht zu überhören. Sternanis Ahornsirup Freds neue Badehose Emmer Roggenvollkornmehl und die Auswirkungen der globalen Erderwärmung auf die Vegetation des Hohen Venns rieselten unbeachtet an Kathis Gehörgang vorbei. Auch die Ankündigung einer erneuten Pflückaktion am übernächsten Tag schien keinen Zugang in Kathis Bewusstsein zu finden. In höchster Lautstärke hätten die Alarmsirenen bei ihr schrillen müssen, als Freds Drei-Tage-Bart in einem Atemzug mit dem neuen Sojasprossen-Grünkernauflauf-Rezept erwähnt wurde. Aber Kathi war damals ja so naiv und hatte Jennifers Worterguss einfach ignoriert, weil ihr die Stimme der Kollegin körperlich regelrecht weh tat.

Als Jennifer endlich mit einem Jute-Beutel voller Pflaumen in ihr Auto stieg, war Kathi erleichtert. Dass die attraktive Frau mit den haselnussbraunen Augen geradewegs zu Fred fuhr, konnte Kathi nicht ahnen. Jennifer suchte Kathis Lebensgefährten in dessen Computerzubehör/-teile-Shop heim. Er war gerade äußerst konzentriert damit beschäftigt, einen neu entdeckten Computer-Virus zu identifizieren, als Jennifer ihren Beutel mit dem leicht matschigen Inhalt schwungvoll auf die Ladentheke warf und in ihrer unnachahmlichen Art losplauderte. Eigentlich habe sie ja zum Bioladen gewollt noch schnell ein paar Sesamkräcker fürs Abendbrot besorgen und Fenchelhonig gegen ihre Bronchitis da sei sie zufällig an seinem Computerladen vorbeigekommen und habe sich gedacht sagst halt auch dem Fred rasch mal Dankeschön für das köstliche Obst da bin ich nun hallo.

Vermutlich hatte Fred auch ihr zunächst überhaupt nicht zugehört und nur gelegentlich genickt und „ja ja“ gesagt. Dessen war Kathi sich ganz sicher. Aber irgendwann musste er im falschen Moment „ja ja“ gesagt haben, denn abends sah Kathi ihren Fred in Jennifers Auto steigen. In der Hand trug er ihren Jute-Beutel mit den sichtlich überreifen Pflaumen. Allem Anschein nach fuhr er freiwillig mit Jennifer davon, denn Fred erweckte keineswegs den Eindruck, er sei gekidnappt worden.

Kathi kannte ihre Kollegin gut genug um zu wissen, wie der Ausflug enden würde. Jennifer würde den arglosen Fred in ihre Küche locken und ihm dort den bewährten Reisauflauf an gerösteten Kürbiskernen in knuspriger Sesamkruste servieren. Erfahrungsgemäß reichte sie kuhwarme Hafermilch dazu, und zum Nachtisch gab es diese köstlich nach Vanille

duftenden Hirseplätzchen, frisch gebacken natürlich und mit winzigen Erdnussbutterflöckchen garniert.

Was Jennifer danach alles noch anbieten würde, mochte Kathi sich gar nicht vorstellen. Es wird auch für immer Jennifers Geheimnis bleiben, denn Fred kehrte nicht mehr zurück zu Kathi und ihrer Sardellenpizza, gebacken mit viel Liebe und Weizenauszugsmehl vom Typ 405, garniert mit dem Lebensmittelfarbstoff E160a/E160b.

Aber Kathi war nicht nachtragend. Im Gegenteil. Zwei Tage nach Freds Fernbleiben klaubte sie frühmorgens die restlichen Pflaumen von der Erde auf und packte sie in einen Beutel mit dem Firmenlogo des ortsansässigen Bioladens. „Die wolltest du auch noch haben“, schrieb sie auf einen Zettel und legte das Ganze auf Jennifers Schreibtisch im Rathaus. Der dunkle Pflaumensaft zeichnete zwar hässliche Kringel auf die Korrespondenz – aber so etwas kann ja mal vorkommen.

Trotz allem sieht Kathi ihrer Zukunft gelassen entgegen. Sie freut sich jetzt schon auf den nächsten Herbst und darauf, dass die Vögel endlich wieder mit wildem Flügelschlag herangeschwirrt kommen und laut kreischend über ihren Pflaumenbaum herfallen und ihn leerplündern. Auch in den nachfolgenden Jahren werden die Stare ihn wieder heimsuchen dürfen – das heißt, wenn der Baum dann noch steht. Sofern Fred nach seiner schmerzhaften Magen-Darm-Infektion, verursacht durch den Verzehr von verfaulten und von Wurmfraß befallenen Pflaumen, wieder zu Vernunft und zu ihr zurückkäme, müssten die Baumfäller anrücken – denn Gelegenheit macht Liebe.




Monika Schlößer
Geboren 1949, lebt mit ihrem Mann in Bad Münstereifel, 2 Töchter und Enkel. Mittlerweile über 100 Veröffentlichungen von Lyrik, Kurzkrimis, Kurzprosa und Märchen in Anthologien, Kunst-Kalendern wie éditions trèves, Jahrbüchern, (Literatur)-Zeitschriften, in Schaufenstern, auf einer Lyriksäule und bei online-Magazinen wie kunstkulturliteratur.com










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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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