Ida Müermann für #kkl49 „Ablenkung“
Unterwegs
Der Zug rattert über die Gleise. Vor dem Fenster zieht die Welt vorbei. Neuer Tag, neuer Zug, neues Land. Sehen. Spüren. Leben lernen.
Manchmal muss man das Leben auf Umwegen lernen. Während ich so in die Welt gezogen bin und dich manchmal mit mir gezogen habe, hat sich etwas in mir verzogen. Je weiter wir uns bewegen, der Zug und ich, desto mehr spüre ich es. Ich habe so viel gesehen und gespürt, so vieles erlebt und erlernt. Aber bei all diesen wundervollen Orten, an die es mich zieht, war keine Heimat dabei. Stattdessen habe ich mich auf der Suche in den schönsten, besten, größten Ablenkungen verloren. Meine Heimat ist kein Ort und mein Glück ist keine Reise. Meine Heimat sind die Menschen in meinem Herz und die wundervolle Zeit mit ihnen. Zuhause, das bist du, und bei dir bin ich glücklich.
Mein Glück ist kein Ziel am Ende einer anstrengenden Reise. Wenn man ein Ziel erreicht hat, ist es kein Ziel mehr und kein Glück. Das Glück liegt in Zufriedenheit, falls es überhaupt „das Glück“ gibt. Und Zufriedenheit, wo liegt die? Zufriedenheit: nicht so ungestüm und überwältigend wie das Glück, dafür beständig. Glück ist gut, doch die Jagd nach ihm nur eine verlockende Ablenkung von echter Zufriedenheit. Zufriedenheit streichelt sanft und liebevoll deinen Rücken und braucht so wenig Großes.
Ich brauche so wenig Großes. Was brauche ich?
Gedankenkonstrukt: man stellt sich bei allen Dingen, die man kennt und hat vor, wie es ohne ist. Manches ist keinen Wimpernschlag lang weg, da hat man es schon vergessen. Manches vermisst man ein wenig, aber wenn man es sich länger ohne vorstellt, dann fühlt man sich befreit. Manches ist eine verlockende Ablenkung vom Wesentlichen, die es zu entfernen gilt. Und dann kam ich zu einem Gedankenkonstrukt, bei dem ich das Leben ohne nicht überlebe.
Gedanke – Übelkeit – Tränen – Atemstillstand. Kann nicht mehr essen, kann nicht mehr atmen, meine Zufriedenheit auf einen Schlag fern für immer. ChatGpt rät mir, zum Arzt zu gehen, es könnte ein Herzfehler vorliegen. Google nennt meinen Zustand das Heart Break Symptom. Dabei war es nur der Gedanke. Wenn das Gedankenkonstrukt mein Herz körperlich spürbar zerreißt, was würde der Ernstfall mit mir machen? Fazit. Der Ernstfall darf nicht eintreten. Ich habe also in Gedanken das eine gefunden, das mich im innersten Kern zusammenhält. Ich kann auf alles verzichten – aber nicht auf dich.
Wenn wir die einfachsten Dinge tun, zusammensitzen, lesen, reden oder einfach nur einander in den Armen liegen, das ist Zufriedenheit. Wir müssen nicht groß lachen, uns wild umeinanderdrehen und passgenau bewegen.
Ich bin zufrieden, wenn wir ganz ruhig miteinander leben.
Weitergedacht: Zufriedenheit ist das Zentrum zwischen großem Glück und großem Leid. Ying und Yang haben im Kreis einen Mittelpunkt. Dieser Mittelpunkt ist die Grundzufriedenheit. Meine Grundzufriedenheit: dieses miteinander zusammen gemeinsam Leben.
Alles, was über uns hinausgeht, all die wilden Ideen und bunten Träume lenken nur ab vom wesentlichen: uns. Habe ich zu lange gebraucht, um das zu sehen? Mein Herz rast, so wie die letzten Tage schon, immer dann, wenn sich die Erkenntnis in mir breit macht. Ich war abgelenkt von glänzenden Träumen. Träume sind Schäume. Ich habe zu viel gesucht, geschrien, gestritten und gewollt und dabei ist ein Stück Zeit verronnen. Ich habe meine Zufriedenheit wiedererkannt und hart erkämpft, aber es hat ein Stück Zeit gekostet. Habe ich dabei deine einfache Zufriedenheit mit mir verspielt?
Die Vergangenheit ist vergangen. Die Zeit, die ich gebraucht habe, ist verstrichen. Der Zug beschleunigt, aber ich fahre nicht mehr fort. Ohne Ablenkung, voller Fokus: Ich bin jetzt auf dem Weg zu mir, meiner Mitte, meiner Zufriedenheit. Auf dem Weg nach Hause – zu dir. Ich kann nur hoffen, dass du immer noch da bist, wenn ich heimkomme.
Ida Müermann studiert Deutsche Philologie im siebten Semester. Sie schreibt seit drei Semestern für die Unizeitung „Lautschrift“ und bringt ihre Texte bei verschiedenen Poetry Slams in ganz Bayern auf die Bühne.
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