Ablenkung

Stefan Röck für #kkl49 „Ablenkung“




Ablenkung

Ablenkung – selten so gebraucht wie dieses Jahr. 2025 beginnt sehr stark, eigentlich zu stark für meinen Geschmack. Zu allem politischen Gemurkse beschließt meine Mutter zu sterben. Wenn der Moment dann da ist, helfen auch nicht die Monate Vorbereitungszeit. Meine Mutter – im Pflegeheim seit einem guten halben Jahr und auch bereits seit Monaten nicht mehr wirklich ansprechbar – stirbt. Darüber gesprochen, und wie gut es doch wäre, wurde bereits seit längerer Zeit. Ich wollte diese Gespräche nicht führen und habe sie letztendlich auch sehr halbherzig zugelassen und mit Standardfloskeln beantwortet. In Gedanken war ich dabei meistens ganz wo anders.

Die Zeit des Pflegens war eine sehr intensive Zeit, eine sehr innige Zeit, kreierte viele schöne und liebevolle Momente, aber auch zahlreiche wahrscheinlich überwiegend traurige und herausfordernde Zeiten. So ehrlich muss ich dann doch sein. Hat sich jede Minute des längeren Lebens rentiert? Ja, schon.

Was für ein wilder Ride die letzten Tage doch waren. Nicht nur, dass vergangenen Montag meine Mama nach schwerer Krankheit verstorben ist, sondern mein Freund auch im Krankenhaus, inklusive immensen Blutverlust, landete, da bei der OP erneut (!) etwas schief lief. Warum dann wieder dieses Krankenhaus? Die Debatte über leistbare Gesundheitsversorgung und die Zweiklassengesellschaft soll an dieser Stelle aber nicht ausgeführt werden, das wird wohl ein weiterer Text in Zukunft werden. Mit viel Wut und Gefühlen der Ohnmacht.

Auf alle Fälle fanden diese zwei Ereignisse am selben Tag statt und es ist wahrscheinlich gut vorstellbar, dass mir für einen Moment lang der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.

Ablenken, keine Gefühle, so gut es irgendwie geht, zulassen – diese Strategie verfolge und perfektioniere ich seit Kindheitstagen. Hilft einerseits, um zu funktionieren, die richtigen Worte für das Gegenüber und die Außenwelt zu finden, andererseits fühlt es sich völlig dumpf an. Als hätte man Schallschutz an den Ohren, Wattebausche tonnenweise in den Gehörgang gestopft und nimmt nur ein Rauschen wahr, aber kann es weder zuordnen noch spüren. Diese gewisse Flucht vor der Realität hilft natürlich. Körperlich da, gefühlstechnisch auch, allerdings etwas entfernt, um selbst nicht zu zerbrechen. Schlau? Für den kurzen Moment bestimmt. Langfristig wohl eher nicht. Aber was soll Mann denn tun, wenn nie ein anderes Werkzeug erlernt wurde und Krisenmomente immer wieder bestätigten, dass diese Strategie doch so gut funktioniert. Ja, ich bin ein reflektierter Mensch, Therapie wäre doch eine Möglichkeit, aber warum ein funktionierendes System reparieren, das doch so gut funktioniert. Zudem viel kostengünstiger – ich werde schon wieder gesundheitspolitisch. Niederschwelliger und gratis Zugang für Therapieplätze aller Art! Jawohl! Das brauchen wir. Dann würde ich das natürlich auch in Anspruch nehmen. Sag ich jetzt. Weiß ich nicht. Könnte sein. Vielleicht aber nur noch schnell diese zwei Krisen überstehen, um dann mit geschwellter Brust dazustehen, sich selbst zu beweihräuchern und vorsagen, dass man das ganz ohne Hilfe geschafft hätte. Therapie? Nicht mit starker Persönlichkeit, die mit dieser Aussage ziemlich schwach dasteht. Ablenkung. Hilft. Beerdigung planen. Wow – welch Aufwand wird hier betrieben. Ja, natürlich geht es hier um einen geliebten Menschen und deshalb muss auch alles perfekt sein. Es braucht einen Chor. Es braucht Orgelbegleitung. Es braucht einen Lebenslauf. Lustig. Traurig. Die volle Bandbreite der Gefühle. Im Idealfall Nebelschwaden und düsteres Wetter. Kein Regen, sonst kommen weniger Leute zur Beerdigung. Sie sollen in Scharen kommen. Sie müssen etwas erleben. Es muss etwas geboten werden. Parte schreiben, Danksagungen, Bilder, Blumenschmuck, Essen im zentralen Gasthaus des Dorfes. Für mindestens 80 Personen. Hochzeit? Nein, Trauerfeier. Aber gute Stimmung. Trotzdem. Der Druck ist für die gesamte übrig gebliebene Familie spürbar. Alle schwimmen gegen den Strom. Alle auf die eigene Art und Weise. Ich versuche mich am Rückenschwimmen, merke aber recht bald, dass das meiner Schwester nicht hilft und ich nur an der Oberfläche kratze, drehe mich und versuche mich am Kraulen. Völliger Anfänger, aber irgendwie bleiben wir über Wasser.

Wer sagt, dass das Leben teuer geworden sei, dem möchte ich den Tod nicht wünschen.

Gut, dass meine Mutter immer wieder daran gedacht und gespart hat. Zu Lebzeiten hat mich diese Eigenschaft sehr gestört und auch in diesen Momenten musste ich mich immer wieder ablenken. Liegt mir der Tod allgemein nicht? Das könnte sein. Habe ich Angst? Nein, natürlich nicht, liegt er doch so weit in der Ferne. Angst. Ablenkung. Mehr Sport sollte ich machen. Einmal in der Woche raffe ich mich auf, öfter schaffe ich nicht. Aber es wär so wichtig. Beschäftigung einerseits und das gute Gewissen beim schmackhaften Essen andererseits. Saufeskapaden fühlen sich anschließend auch so viel besser an, so denke ich, wenn man sich schön einredet, dass das anschließend oder vorher eh schon rausgeschwitzt wird. Flüssigkeitszufuhr auch sehr wichtig. Auch nach der Beerdigung im Gasthaus. So kommen Geschichten zu Tage, Gespräche ergeben sich mit weiterer Verwandtschaft, die man eigentlich noch nie gesehen hat oder nur vom Wegsehen kennt. Alle liegen sich in den Armen, sind sie sich doch einig welch toller Mensch Mutter doch war und wie gut es doch sei, dass diese Zeit des Leidens nun auch vorbei sei. Erneut ertappe ich mich beim Floskeln dreschen und Zustimmen. Dabei habe ich einfach keine Lust darauf, keine Mutter mehr zu haben. Noch schlimmer, gar keinen Elternteil mehr. Das ist verdammt scheiße, es ärgert mich. Es macht mich richtig zornig. Warum muss ich das alles als junger Mensch schon erleben. Ja, es gab viele Vorteile als Nesthäkchen der Familie, aber wer konnte diese Nachteile erahnen? Nun gut, Menschen, die sich mit dem Tod auseinandersetzen. Trotzdem. Sind morbide Menschen die besseren Menschen? Sind die gut zu ihren Mitmenschen, vor allem zur Mutter zu Lebzeiten? Don’t know. Ich zähle mich nicht dazu.

Freunden schreiben, viel schreiben, bestenfalls wieder bei Menschen melden, die man schon länger nicht mehr gesehen hat. Ein wirklich toller Anlass. Wer würde da nicht reagieren und es einfach ignorieren? 1:0 für mich denke ich mir und sehe plötzlich weitere Stärken des Todes: verwandtschaftsverbindend, freundschaftsverbindend, bekanntschaftsstärkend. Da verschwindet auch plötzlich der Gedanke der Ferne, des eigentlichen Stadtlebens, des eigentlichen Stadtseins, des Fremdseins im eigenen Dorf. Ein interessantes soziales Gefüge, ein Strudel, ein Sog, aus dem man nicht herauskommt, sich aber gleichzeitig wohl und aufgehoben fühlt. Wann im Leben interessieren sich sonst so viele Menschen für das eigene Wohlergehen?

Heute ist erst Sonntag, noch keine sieben Tage sind seit dem doch plötzlichen Tod vergangen. Das Leben eine Achterbahnfahrt. Alles passiert in diesen Tagen und trotzdem fühlte es sich an, als wäre die Zeit stehen geblieben. Warum ist das so? Ist auch das wieder ein Ausbrechen aus dem Leben, ein Schutzmechanismus, um daran nicht zu zerbrechen. Eine Art Kleber, der die Bruchstücke der eigenen Person beisammenhält? Dabei denke ich gerade an den Lana del Rey Song „Kintsugi“. Eigentlich eine schöne Metapher und Art, mit Tod und Trauer umzugehen. Die Bruchstücke werden, wie es dieses japanische Kunsthandwerk, mit Gold gekittet und halten somit nicht nur zusammen, sondern machen auch noch ordentlich etwas her. Meine verschlafenen Augen und mein ermüdeter Körper fühlen sich aktuell noch nicht so an, aber ich denke, dass die Goldschmelze gerade erst begonnen hat und ich das dann schon mit der Zeit merken werde. Finger sind gekreuzt.

Musik, allgemein ein wichtiger Bestandteil in meinem Leben. Nicht nur das tägliche Dahinsingen, sondern auch die aktive Recherche nach neuem Material helfen mir, um mit Stresssituationen besser umgehen zu können. Das Gefühl, neue Musik zu entdecken, die Möglichkeit zu haben, darin zu versinken, sie zu genießen, sie ganzheitlich aufzusaugen, sie zu analysieren, Vergleiche mit bereits existenter Musik und Künstler:innen zu machen – große LIEBE. Ich könnte mich stundenlang damit beschäftigen, mich darüber zu unterhalten, zu referieren. Manchmal ertappe ich mich dabei, mir selbst Dinge vorzusagen, da mir das Gegenüber fehlt. Peinlich berührt, aber doch irgendwie befriedigt, weil’s im Detail für das +1 dann doch verständlicherweise nervtötend sein. Mein Musikkonsum besteht vor allem aus der Wiederholung. So kann es sein, dass ein Song, ein Album über Monate hinweg gespielt wird, sodass eine gute Analyse oder gleichzeitig das völlige Ignorieren von Textzeilen möglich ist. Auch jetzt, in diesem Moment, gelingt es mir neue Musik zu finden. Kein Trash, modern, niveauvoll, durchaus schmückend in meiner Playlist. Das hilft, das tut gut. Schreiben hilft ebenfalls. Zeitgleich möglich. Mit Freunden schreiben. Zeitgleich möglich. Abrechnungen machen, die ich schon lange vor mich herschiebe. Zeitgleich möglich. Multitasking auf ganz neuer Ebene. Alles möglich. Zeitgleich. Durchgehend. Ablenkung. Ablenkung. Ablenkung. Ablenkung.

Morgen ist Montag. Eine Woche ist es dann her, dass meine Mutter gestorben ist. Wie wird es nun im Elternhaus werden? Ist es noch das Elternhaus? Ist es noch mein Elternhaus? Die fehlen ja nun zur Gänze. Welche Berechtigung habe ich nun in der Gemeinde zu sein? Es gibt ja keine Krankenbesuche mehr. Ab welcher Zahl sind Besuche zu viel, wann zu wenig? Wie oft wird man geduldet? Wie oft dulde ich es selbst? Gedankenkreise.

Welche Erinnerungsstücke nehme ich mit, wie viele nehme ich mit? Welchen Wert haben welche Dinge für mich? Was bedeuten mir Erinnerungen? Habe ich Platz dafür? Schaffe ich Platz dafür? Inwieweit möchte ich mich erinnern? War der getrennte Wohnsitz der Großstadt nicht auch immer eine gute Möglichkeit Probleme aus der Heimat hinter sich zu lassen? Was bedeutet Heimat für mich? Möchte ich über diesen Begriff überhaupt nachdenken?

Album neustarten – Neuanfang – ich verliere mich in dieser Klangwelt. Sie gibt Kraft. Muntert auf. Lenkt ab. Ablenkung. Ich spüre etwas Gold in mir. Nur ein paar Tropfen, sie wärmen mich von innen. Kintsugi. Bald werde auch ich glänzen und als Ganzes wieder von neuem erstrahlen. Die Zeit vordrehen – nein, möchte ich gar nicht. Ich nehme mir vor, jeden Goldtropfen zu spüren. Den Heilungsprozess zuzulassen. Durch meine Adern fließt bald nur noch Gold.

Doch nun aus dem Zug aussteigen, Essen besorgen und zu meiner besseren Hälfte Händchen halten. Er mich aushaltend. Wir einander haltend. Ablenkung.




Mein Name ist Stefan Röck, bin am 02.10.1986, in Innsbruck (Tirol) geboren, komme ursprünglich aus einem 2000 Seelen Dorf in Tirol und arbeite mittlerweile seit über 13 Jahren als Mathematik und Geografie Lehrer im Amerlinggymnasium in Wien. Zu meinen Hobbys zähle ich vor allem Musik (ich bin Teil des Schmusechors) und schreibe auch gerne in meiner Freizeit.









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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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