SPÜLMASCHINEN – BLUES

Thierry Horace für #kkl49 „Ablenkung“




SPÜLMASCHINEN – BLUES

Wenn ich abends in der Küche stehe, das Licht brennt und die Spülmaschine surrt, weiss ich, dass der Tag nun zu Ende geht. Dieses sanfte Brummen weckt ein Gefühl der Befriedigung. Das Tagewerk ist geschafft. Ja, so fühlt es sich an. Nur dass der Ausdruck “Tagewerk” so klingt, als lebte ich in einem deutschen Roman des 19. Jahrhunderts. Oder noch früher.  Oder als würde ich in einem Bergwerk arbeiten. Das ist bei mir definitiv nicht der Fall. Treppensteigen, E-bike fahren, Einkaufen und am Schreibtisch sitzen, das ist mein Tagewerk. Tagewerk klingt auch, als hätte ich vom lieben Gott, den ich sonntags in einer kahlen Kirche besuche, ein mir bestimmtes tägliches Soll an Arbeit zugeteilt bekommen. Dieses muss ich brav abarbeiten, zufriedenstellend abarbeiten. Und zufriedenstellend gilt dann in der Welt mit dem Begriff Tagewerk als Bestnote. 

Mein Tag beginnt damit, dass ich in mein Heimbergwerk greife, die Spülmaschine ausräume, und gleichzeitig unseren Kindern ihre Brotscheiben schmiere, einen Apfel oder eine Banane aufschneide, um dann wieder beherzt ins Geschirrfach zu greifen und Gabeln, Messer, grosse Löffel, kleine Löffel routiniert in die getrennten Schubladenfächer einzuräumen. Ich liebe es, wenn die Gabeln und die Löffel formgleich Rücken an Rücken liegen. 

Fast zeitgleich mit dem Ausräumen, fängt die Maschine wieder an, sich aufzufüllen, den ganzen Tag über. Bis ich dann spät am Abend die letzten Teller und Gläser wieder umständlich in den wenigen verbliebenen Platz staple. Mit einem dumpfen Geräusch drücke ich die Tür zu und entlasse die Maschine mit dem 3h37-Energiesparprogramm in die Nacht. Sie kann sich Zeit nehmen, soviel sie will.  Ein friedlicher Augenblick, besänftigend, beruhigend; diese abendliche Ruhe nach der Aufregung des Tages. Wenn alles gut geht und keine Kinder aufwachen, bleibt dies nun bis zum nächsten Morgen so. Ich atme ein, atme aus.

Jetzt könnte ich mich bequem mit einem Buch hinsetzen, oder sogar schlafen legen, um am nächsten Tag ausgeruht und erquickt erneut das Tagewerk in Angriff zu nehmen. Aber ich bin keine deutsche Romanfigur aus dem 19. Jahrhundert. Es ist 21.Jahrhundert. Meine Frau schaut mich unter ihren Kopfhörern an, bingt* bereits ihr eigenes Programm am Laptop, sowie ich auch gleich. 21.Jahrhundert-Ehe-Individualismus. 

Dieser Tagewerksgott macht es mir jedoch schwer, einfach einen Film oder eine Serie zu schauen. An einem Wochentag! Wo ich doch am nächsten Tag zeitig aufstehen sollte, um mein Tagewerk zu verrichten. 

Ich lese also erstmal Zeitung. Auf dem Internet. Mich lesend mit dem Ernst der Weltpolitik auseinandersetzen, mich nicht einfach so der Unterhaltung hingeben. Ich scrolle durch die Zeitungsseiten und klicke die Artikel an, die mich interessieren. Für jeden Artikel ein Tab, dann kann ich sie gleich schön nacheinander weglesen. Wobei Weglesen – anlesen.  Ich werde die meisten Artikel nur anlesen, denn es ist mir spätabends zu anstrengend, längere politische Hintergrundartikel  zu lesen. Zur Entspannung dann einige Klatschartikel. Die lesen sich eigentlich ganz leicht. Nun habe ich die meisten Artikel im Politikteil gar nicht zu Ende gelesen, kann aber immer noch einmal auf sie zurückkommen, sage ich mir. Und ich lese ja, ich schaue ja nicht etwa Videos. Wobei Videos – ich gehe kurz schauen, was für Clips mir YouTube heute vorschlägt. Und mit aufgeschnallten Kopfhörern stürze ich mich in die Flut der Videoclips, selten 18min lang, vielleicht mal 8min, lieber unter 5min, 1min 30 auf jeden Fall. Ich werde eine gefährliche Flugzeuglandung auf dem gefährlichsten Flughafen der Welt im Himalaya aus Pilotenperspektive schauen, dann den GoPro-gefilmten Angriff einer Ukrainischen Patrouille auf eine Russische Einheit, dann ein Kurzvideo auf dem Kanal einer Private Chef, die innert einer Minute und 20sec ein Wurst-Omelett-Pancake-frische-Früchte-Cornflakes Frühstück für die Kinder einer Milliardärsfamilie aus Texas zubereitet. Gerne auch die peinlichsten Momente 2023 im Fernsehen, das sind teilweise die gleichen wie 2022. 

Zwischendurch tauche ich auf und gehe in die Küche, breche mir ein grösseres als nötig Stück Schokolade ab. Es tut gut, wieder festen Boden unter den Füssen zu fühlen, die schmelzende Schokolade im Mund, in das Schlafzimmer der Kinder zu gehen, ihrem gleichmässigen Atem zuzuhören, während ich mein Gehirn die aufgenommene Bilderflut mit Hochdruck verarbeiten lasse. Den Hund anschauen, der mich erwartungsvoll zurück anschaut, weil wir jetzt gleich hinausgehen werden und er dann pinkeln und sich danach endlich für die Nacht zur Ruhe legen kann. Ich will schon nach der Jacke greifen, da fällt mir eine kleine, kleine Frage ein, die ich kurz noch googeln will, ein Frage, die eine Person aus meinem Bekannten- oder Unbekanntenkreis betrifft. Und schon hat mich das Internet wieder, verschlingt mich das Internet wieder. Klick um Klick werden Sekunden zu Minuten zu Stunden, ein Reizmarathon fürs Auge, ein Aushöhlen der Gefühlswelt, ein Taubmachen aller Sinne, diese in eine Zentrifuge quetschen, sie ohnmächtig machen.  Und am andern Ende des Tunnels ausgelaugt und leer endlich den Hund ausführen. 

Kurz bevor ich dafür die Wohnung verlasse, höre ich, wie die Spülmaschine mit einem Klack die Türe entriegelt. Drei Stunden sind also vorübergezogen, ohne dass ich es gemerkt hätte. 3h37min, um genau zu sein. Energiesparprogramm.

* Wie schreibt sich denn die dritte Person von” bingen“? Er, sie, es bingt? Binged? Binget?




Thierry Horace ist in der Schweiz geboren und lebt heute mit seiner Familie in Paris. Er unterrichtet Schauspiel und Drehbuchschreiben an einer Filmschule.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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