Natalie-Christine Toussaint für #kkl49 „Ablenkung“
Der Schal
Weiße Sneakers, schwarze Pumps, Schritt für Schritt die Straße hinunter. Er läuft neben ihr her. Langsam, ganz im Gegensatz zu den beiden Hünen, die schon außer Sicht sind, getrieben von einem mittäglichen Heißhunger, der keine weitere Minute Aufschub zu ertragen schien. Januar Blues hängt schwermütig in den kahlen Wipfeln der Bäume. Von Zeit zu Zeit tropft etwas davon auf die tote Allee. Inmitten klirrender Kälteschauer, die fortwährend ihren Rücken strapazieren, sehnt sie den Frühling herbei. Die Leichtigkeit in seinen Tagesanbrüchen, die floralen Düfte, die magischen Begegnungen. Once I was a sentimental thing. Threw my heart away each spring, summt sie kaum hörbar. Auf dem eingestrichenen G kollabiert die Melodie.
„Einen schönen Seidenschal tragen Sie. Hält nicht warm, oder?“
Den aufkommenden Impuls, ihren Kopf zu drehen, unterdrückt sie. Triefende Provokation wäre alles, was sie in seinem Blick vorfinden würde. Sie klebte bereits an jeder seiner großspurig formulierten Mails, jedem Jour Fixe Protokoll. Wie es ihm immer wieder gelang, Irritation hervorzurufen, mit seinen Verbalattacken eine Grube voll Unbehagen zu schaufeln. Keiner mochte ihn. Jetzt, um 12 Uhr, fing er an, sich für einen neuen Schlagabtausch einzuschwingen. Der Höhepunkt eines grässlichen Tages. Minusgrade durchfluten ihre Lunge, als sie tief einatmet und sich räuspert: „Es geht mir gut, haben Sie vielen Dank.“ Völlig aus dem Rhythmus gekommen, beschleunigt sie das Tempo. Die Kälte folgt ihr auf dem Fuß.
„Nein, Sie frieren“ insistiert er. Ein vorsichtiges Zögern legt sich in seine Glabella. „Ich kann es sehen“, sagt er schließlich ruhig, einfühlsam, ganz ohne provokante Spitze. „Sie können es sehen?!“, paraphrasiert sie höflich, fast unmerklich den Kopf schüttelnd. Schwachsinn. Die Ironie in ihrem Tonfall entgeht ihm nicht. Unvermittelt hält er an. „Seit wir die Firma verlassen haben, zittern Sie. Darf ich Ihnen einen richtigen Schal anbieten?“ Dieses Mal gelingt es ihr nicht, den Impuls zu unterdrücken, der umgehend ihren Schritt entschleunigt. Wie in Zeitlupe kommt sie einen halben Meter vor ihm zum Stehen. Befremdet dreht sie sich um. Was hatte er nur? 60 Sekunden Gentleman? Die unmissverständliche Geste in Richtung seines Halses lässt keinen Interpretationsspielraum offen. Sie blickt in sein Gesicht, vielleicht zum ersten Mal, seit sie ihm begegnet ist. Haselnussbraune Augen. Er schmunzelt. Mit aller Kraft möchte sie es zurückhalten, das verlegene Lächeln, welches, von einem unbekannten Ort herrührt, und beginnt ihre Lippen zu umspielen. Ihr spontanes Nicken wird von Vernunft ausgebremst, verstummt sogleich.
Schweigend tritt er an sie heran, löst den Schal und lässt einen fliegenden Wechsel von seinen in ihre Hände geschehen. Für den Bruchteil einer Sekunde berühren sie sich.
Die Wärme seiner Haut trifft sie unvorbereitet. Ihr Herz macht einen Sprung. Die Melodie kehrt zurück. Promised my first dance to winter.
Ihr Gedanke verliert sich in feinstem Flaumhaar, das in ihren Händen zum Leben erwacht. Dieser Schal, aus Kaschmir; weich, weiß und so lang, dass sie ihn zweimal um ihren Hals legen kann, schmiegt sich wohlig an sie. Seine augenblickliche Umarmung lässt alle Kälte dahinschmelzen.
Plötzlich ist sie mittendrin, auf einer schier endlosen Reise entlang der Innenfläche ihrer Hand. Schwerelos bis zum Saum der Wolle, wieder nach oben, sinnlich verharrend und schwungvoll zurück, mitten in den ausgefransten Rand hinein. Und selbst dort, wo die Wolle sich beinahe aufzulösen scheint, entfaltet sich pure Sanftheit zwischen ihren Fingerspitzen. This is love, this is it.
Sie lächelt. Da ist noch mehr. Unfähig, sich zu erwehren, schließt sie die Augen, als könne sie ihn so besser verstehen, diesen Duft, seine identitätsstiftende Essenz; Sandelholz, Weihrauch, Zimt, eine Spur fast verflogener Orange.
Ein leises „Mmmmhhh“ erfüllt einen von Vergänglichkeit befreiten Raum, diesen Augenblick des Nichtanhaftens, in dem ihr alles entgleitet. Der Asphalt unter ihren Füßen, die Stadt, das Ziel des kurzen Ausflugs zur Mittagszeit und alles, was sie glaubte, über ihn zu wissen.
Er beobachtet sie, zutiefst berührt von der Intimität ihrer Reaktion, die er nicht erwartet hat. Mit den Augen zu Boden gesenkt, neigt er nun den Kopf zur Seite und gibt sie preis, belebt sie; feine Linien um einen Blick, graviert mit den Erinnerungen von tausendmal Lächeln in die Welt getragen. Nur er. Seele an der Oberfläche. Gut versteckt bis jetzt.
Als sie ihre Augen öffnet, ist alles anders und sie sucht sehnsuchtsvoll die seinen. Doch da ist er schon vorüber, der Moment, dieser Eine, dieser Kostbare. Sie hat ihn nicht gesehen.

Natalie-Christine Toussaint
Herzmensch • Romantikerin • Philanthropin
Nach Abschluss meines interdisziplinären Studiums habe ich für verschiedene Unternehmen gearbeitet und darf seit einigen Jahren ein internationales Team aus ERP-BeraterInnen sowie Dual-Studierenden führen und weiterentwickeln. Neben der Schriftstellerei sind Musik, Sprachen und gute Weine meine großen Leidenschaften.
Über #kkl HIER

Der Schal…toll geschrieben und dargestellt….alle 5 sinne koen durch…und begleiten die Gedichte….Sehen,Hören,riechen,schmecken und tasten…Kreativität,Fantasie,Realität treffen sic zusammen….
Complimenti Frau Toussaint…
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Der Schal…toll geschrieben und dargestellt…alle 5 Sinne kommen durch…und begleitendie Gedichte…Sehen,Hören,Riechen,Schecken und Tasten….
Kreativität,Fantasie,Realität treffen sich zusammen…
Complimenti Frau Toussaint
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