Martin A. Völker für #kkl49 „Ablenkung“
Denn irgendwo steht die Himmelsleiter
Wie hältst du es mit der Zauberei? Die Frage mag dich überraschen, aber ohne Zauberei wäre das Leben kein Leben. Sobald ein Zauberer auf der Bühne erscheint, zieht er uns in seinen Bann. Schon vorher, allein wenn wir an den schwarzen Zylinder, an den Stab oder an die weißen Handschuhe denken, sorgen die Zauberer dafür, dass wir uns aus dem Alltag herauslösen. Öffnet sich dann der Bühnenvorhang, tauchen wir ein in eine fremde Welt, und wir lassen uns von dieser Fremdheit begeistern. Dinge verschwinden und tauchen an anderer Stelle wieder auf. Schweres beginnt zu schweben. Menschen droht die Zerteilung, und doch bleiben sie wie durch ein Wunder unverletzt. Die Naturgesetze scheinen ihre Geltung verloren zu haben. Das Unmögliche wird möglich, das Unerwartete geschieht und bleibt trotzdem unberechenbar. Konzentriert achten wir auf jeden Handgriff, auf jede Geste, auf jedes Accessoire, jede Requisite der Zauberakteure, um uns wieder und wieder zu wundern. Wir sitzen im Parkett in froher Erwartung des Wunderbaren, während wir uns jenseits des Theaterraumes in Bitternis an den Unmöglichkeiten abarbeiten.

Lass die Erwartung des Wunderbaren nicht im Theater zurück, trage sie wie eine Brille, mit der du durch die Alltäglichkeiten schlenderst. Achte auf jedes Detail, aus dem das Übergroße gewaltig emporwachsen kann, denn irgendwo steht die Himmelsleiter, obwohl sie sich deinem Blickfeld entzieht. Die Erwartung des Wunderbaren erweitert dein Gesichtsfeld und vertieft die Blicke. Möglich wird das, wenn du deinen Verstand überlisten kannst, wenn du vom Vernunftgemäßen absiehst, weil dieses dich bloß das Ewiggleiche sehen und erleben lässt. Um des Wunders teilhaftig zu werden, ist Unverstand vonnöten. Wer will den schon zeigen? Der Sinn des Lebens bestehe darin, so flüstern es dir täglich die Kleingeister ein, den Unverstand loszuwerden, und je größer dein Verstand wird, desto kleiner wird eben dein Geist, worin ja die Forderung besteht. Der Verstand lässt dich wie in einem Gefängnishof kontrolliert im Kreis laufen. Keinen Gedanken sollst du hegen, der dich befreit, der dich nach oben oder nach unten oder in die Zick-Zack-Ferne führt. Nicht ertragen können es die Kleingeister, wenn du sie überragst und ihnen ihre Kleinheit vorführst, indem du zu neuer, ungeahnter Größe aufsteigst. Einzig den Unverständigen zeigt sich die Himmelsleiter, weil sie es nie verlernt haben, nicht verlernen können, mit Wundern zu leben. So ergeht es dem kleinen Hans im Märchen, der sich die überlebenswichtige Kuh für fünf Bohnen abschwatzen lässt. Die unscheinbaren Bohnen sind es, die zu einer mächtigen Ranke und zur Himmelsleiter werden. Wäre Hans bei Verstand gewesen oder geblieben, hätte sich sein Leben nicht geändert. Seine Normalität war die qualvolle Armut, welche sich ins Unendliche hinein verlängert. Seine Unnormalität öffnet ihm das Himmelreich, damit sein Leben auf Erden unnormal, also viel besser als erwartet verläuft. Zu der Erwartung des Wunderbaren muss etwas hinzukommen, damit sich das Wunderbare uns offenbaren kann. Jede Zaubershow lebt davon, dass wir zwar auf jedes Detail achten, es allerdings nie jene Details sind, die uns mitteilen würden, wie ein Zaubertrick funktioniert. Verstünden wir die Funktionsweise, wären das Wunder und die Himmelsleiter fort. Ganz unverständig müssen wir werden, müssen uns ablenken lassen wollen vom Geradlinigen und Logischen, damit die Zauberbohnen ihre märchenhafte Wirkung entfalten, sie Wurzeln und Blüten treiben können. Zu beachten ist, dass die magischen Ablenkungen, auf die wir uns voller Unverstand wohlig einlassen, nicht verwechselt werden dürfen mit jenen Ablenkungen, die unseren Alltag feindlich übernehmen wollen. Lerne zwischen Ablenkung und Ausflucht zu unterscheiden. Die eine lässt dich in den Himmel steigen, die andere dich nur prokrastinieren. Die Ausflucht führt zur bleiernen Schwere und zu einer Leere, in welche das himmlische Treiben hineintönt wie ein Hohngelächter, weil die Kraft fehlt, den Blick in den unerreichbaren Himmel zu richten. Bedenke indes: Die Leiter, die dich in den Himmel führt, um das Wunder des Möglichen zu schauen, steht fest auf dem Boden, auf deinem Boden.
Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Dozent, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia., geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Dozent, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.
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