Christina Hermann für #kkl49 „Ablenkung“
„Zum Teufel mit der Disziplin“
Seit zwei Monaten kein Auftrag. Präsentationsmappen geschickt, ängstlich herumtelefoniert, gewartet. Lapidare Absagen, wenn überhaupt. Das Geld wird knapp. Wo verdammt nochmal wollte ich mit Ende Dreißig sein? Beruflich, künstlerisch und von privat erst gar nicht zu reden. Stattdessen verschuldet, krank und allein. Die letzte Rate konnte ich grade noch überweisen. Die Finanzierung des großen Hauses mitten im Buchenwald, das ich nach der Trennung, koste es, was es wolle, behalten wollte, schreit nach verfluchter Akquise. Nach Disziplin. Das Wort will noch immer nicht über meine Lippen, wenn, dann höchstens als Dis-Wort. Noch immer stehe ich mit der unsäglichen Disziplin auf Kriegsfuß. Der Dis-Zeigefinger ist untrennbar mit dem hausierenden Vater verbunden, die Akquise mit dem Hausierer und der Hausierer mit der Angst vor Abfuhr. Trotzdem sollte ich mich an die telefonische Kaltakquise machen.
Meine Handnotizen empfehlen das Möbelhaus Intera, Marketingleiter Dr. Kalt. Ich greife zum Telefon. Lege auf. Vielleicht der Name. Großgärtnerei Frei, Werbeleiterin Frau Frei. Eigentümer sind besonders skeptisch. Klimageräte. Nicht schon wieder Technik. Beim Ausweichen und Ablenken bin ich genial wie früher als 12-Jährige in den Autoscootern, wenn ich auf unseren Volksfesten in den Dingern umherschlingerte und es keinem der Jungen gelang, mich abzuschießen. Ich lasse die Bürotür angelehnt, laufe die Kellerstufen runter und werfe eine Maschine Buntwäsche an. Wieder rauf, die Kaffeemaschine entkalken, ist überfällig. Herrgott, könnte doch mal ein Kunde mich anrufen, mal umgekehrte Akquise. Stattdessen klingelt die Stimme meiner Mutter: dass der Vater schöntat, um an den Haustüren den Hausfrauen sein Waschpulver anzudrehen. An-zu-drehen. Ach Mutti, warum hast du den Spitzenverkäufer, der uns nach der DDR-Flucht alle ernährt hat, zum schmierigen Hausierer degradiert und in mir den ängstlichen herangezogen? Auf diese Mitgift hätte ich gerne verzichtet. Hausiererkinder, hatten die Dorfjungs uns Flüchtlingskindern hinterhergegrölt. Der Hausierer kann mich, macht mich aber verrückt und lähmt mich. Verrückt gelähmt hocke ich auf der Eckbank gegenüber dem Schreibtisch, zähle die Bretter des Buchenbodens, rudere mit den Zehen, versuche mit dem großen die Angst wegzukicken, schlürfe nach dem vierten Kaffee heißen Kakao mit Schlagsahne, packe den Hörer, drehe die surrende Wählscheibe und lege mit schweißnassen Händen auf. Nicht für Geld und gute Worte werde ich irgendwem irgendwas andrehen. Das Telefon klingelt. Wie ertappt zucke ich zusammen. Wieder kein Kunde, nur die Nachbarin, die fragt, ob ich sie, wenn es hoffentlich keine Umstände macht, bitte wirklich keine, in einer halben Stunde vom Bahnhof abholen könne. Aber gerne doch. Wenn ich zurückkomme, ist es zu spät zum Telefonieren. Erleichtert düse ich los. Also Morgen.
Heute also. Zu den bereits ausführlichen Handnotizen kritzle ich den ganzen Vormittag weitere haarkleine Kommentare zu den potentiellen Kunden. Gut vorbereitet sein ist alles. Mit drei Fingern auf dem Hörer wünsche ich inbrünstig, nicht telefonieren zu müssen. Ich stapfe vom Atelier ins Wohnzimmer, in die Küche und beuge mich über die Termine für die Müllabfuhr. Sollte nicht Ende Juli der Kaminkehrer kommen? Ich krame in der Lade nach dem Zettel, finde die Telefonnummer vom Holzhändler, ziehe das Telefon am Verlängerungskabel hinter mir her und bestelle, auf den Küchentisch gestützt, sieben Meter Buchenscheite für den Winter. Holz ist wichtig. Du solltest aber auch auf dem Buchenwaldboden bleiben, wenn du für Aufträge und Kredite nach den Sternen greifst. Solltest du dringend. Sonst wirst du dich bald von deinem Haus verabschieden müssen und dir das nie verzeihen. Die Welt kommt nicht zu dir. Du musst ihr. Mit der Angst, nicht zu genügen, richte ich mich auf, tappe mit dem Telefon zurück und zwinge mich zu schweißtreibenden Anrufen. Das eingelernte Sprüchlein stolpert und holpert zum Erbarmen. Danke, wir brauchen nichts. Unter dem Schreibtisch stoße ich mit der Sohle einen schwarzen Strich auf den ignoranten hellen Fußboden. Noch einen und noch einen und noch einen.
Endlich doch ein Auftrag! Sechs Illustrationen, präzise Vorgaben, gutes Honorar. Kleinigkeit. Erlöst drehe ich ein paar Runden auf dem Damm. Bewegung muss sein. Morgen fange ich an.
Morgen verschiebe ich nochmal auf morgen. Und morgen auf übermorgen. Ist einfach zu viel zu tun. Zwei Tage vor dem Termin sind meine Finger unfähig, den bereits dreimal gespitzten Bleistift zu führen. Ich fühle mich gelähmt und wie eine Vollidiotin. Du musst den Termin halten, du brauchst das Geld, du musst brillant sein. Vielleicht bist du gar nicht brillant. Doch, morgen, ich schwöre, mit der Nacht vor dem Termin, das schaff ich noch. Schaffst du nie, höhnt es im Traum.
Ich zwinge mich vor das leere Blatt und kotze gleich drauf. Der Stift bewegt sich widerspenstig und zäh, als müsse er sich in der heißen Augustnacht über verschwitztes Papier arbeiten. Um acht Uhr früh hängen Schultern und Lider und ich. Da sind sie wieder, die hämischen Stimmen. Ich stemme mich gegen die Schwerkraft hoch, taste den Hörer, presse Fischvergiftung hinein und sterbe fast an Vergiftung durch Scham und schlechtes Gewissen. Das bin nicht ich. Und wenn doch?
Die Illustrationen habe ich dann irgendwie hingebogen und abgeliefert. Ein Hit sind sie nicht. Deshalb vergibt der Auftraggeber keine neuen Aufträge und sonst auch keiner. Im Garten klopfe ich Zahlen in den Tischrechner, beuge mich über herausratternde Papierstreifen und fröstle in der Septembersonne. Die Zinsen haben sich schwindelerregend hochgeschraubt und die Gesamtkosten auf das Dreifache des Durchschnittseinkommens. Eine selbständige Grafikerin mit Akquiseangst will das stemmen. Ich muss verrückt sein. Vielleicht. Wahrscheinlich. Egal, ich will das Haus. Ich will es für das Flüchtlingskind. Für sein erstes richtiges Zuhause. Ein verschwenderisches Zuhause. Also hör auf zu lamentieren, bring endlich den feigen, beschissenen Hausierer zum Schweigen. Egal wie! Hetz, wenn nötig, deinen inneren Killer auf ihn. Pack den Hörer, wähl meinetwegen die Seelsorge, aber wähle! Berühr den Hörer wie einen gesegneten Türöffner zum nächsten Kunden! Dreh die Wählscheibe, als wäre die Nummer dein Lottogewinn! Begrüß den Menschen am anderen Ende, als würde er sehnlich auf deinen Anruf warten! Ich kann mir grade ziemlich viel einreden. Der Atem wird ruhiger. Unversehens funktioniert die Gehirnregion wieder, die für die Angstregulierung zuständig ist. Wie ein Wunder. Und es macht Spaß, dem Naturell am anderen Ende auf die Spur kommen, über dessen Stimme und was sonst noch durch den Hörer dringt, die eigenen Seismographen nützen. Die eigene Stimme für gute Stimmung. Eine Beziehung aufbauen. Ping Pong. Ein Witz, dieser Hausierer.
Abends drücke ich tief zufrieden ein feuchtes Tuch auf die glühenden Ohren. Drei neue Termine.

Christina Hermann wurde 1953 in Thüringen geboren und wuchs nach der DDR-Flucht in Baden-Württemberg auf. In Wien studierte sie Freie Grafik bei Oswald Oberhuber an der Universität für angewandte Kunst. Sie lebte und arbeitete in Deutschland, Hong Kong und Österreich und gründete Agenturen für Grafik-Design, Werbung und PR.
Mit ihrer Plattform „Open Minded – Wirtschaft. Werte. Spirit.“ veranstaltete sie in Mödling 40 Diskussionsabende mit österreichischen Topmanagern. Sie begleitete die Reihe mit aktiver Pressearbeit und redaktionellen Artikeln.
Als Marketingleiterin bei LeitnerLeitner Wirtschaftstreuhänder entwickelte und betreute sie u.a. Programm und Mentoringpool für Startups.
Die Autorin war Mitglied beim Wiener Texthobel, Werkstatt für Texttechnik, http://texthobel.at/
Veröffentlichung: Etcetera, Literatur und so weiter, Okt. 23, Nr. 93, https://www.litges.at/ „Sexuelle Freiheit, die er meinte“
Christina Hermann lebt jetzt in Krems an der Donau.
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