Küchengedanken

Kristin Hogk für #kkl49 „Ablenkung“




Küchengedanken

Ich will etwas schreiben und habe doch eigentlich Hunger. Egal, wie ich den Stift vor dem leeren Blatt auch halte, in Gedanken blättere ich durch eine Speisekarte: dunkelbraun gebratene Bouletten mit halb herausragenden Zwiebelstückchen, dazu leicht gesalzene Kartoffeln, knackiges Erbsengemüse und mit einer Tomate verfeinerte Bratensoße. Oder vielleicht ein Pastagericht? Mit Fisch und Spinat in heller Dill-Sahne-Soße, alternativ würde sich auch eine schmackhafte Bolognese mit geriebenem Parmesankäse gut dazu machen. Margaritha-Pizza hätte ich auch noch da, das würde richtig schnell gehen. Oder vielleicht doch, passend zum Herbstwetter, ein leckerer, deftig gewürzter, von innen wärmender Weiße-Bohnen-Eintopf? Kassler und Möhren wären allerdings noch zu besorgen.

Aus meinem Fenster heraus sieht das Licht draußen sehr schön aus, auch die tanzenden Äste der Bäume im Wind. Raus will ich deswegen trotzdem nicht und empfinde es als Privileg, auch nicht zu müssen. Damit sind der Eintopf und die Fleischgerichte allerdings raus. Meine Festung hält mich heute gefangen, hält mir mit ihren festen Mauern die Außenwelt vom Leib. Meine gemütliche warme Küche wird mir zum Lesezimmer, zum Schreibzimmer, zum Atelier. Heute mache ich nur, was die Welt nicht braucht – ich wage es, der Gesellschaft unnütz zu sein. Zur Seite steht mir treu mein Schwarztee mit Zitrone.

Schreiben will ich! Konzentriert setze ich meinen Fokus auf die erste vieler leerer Zeilen, setze den vorbildlich gespitzten Bleistift an und lege los. Alles, was mir in den Sinn kommt, erstmal ohne Bewertung, freies Drauflosschreiben, damit der Schreibfluss in die Gänge kommt. Doch schon nach wenigen Zeilen scheinen die Wörter aufgebraucht, mir fällt nichts mehr ein. Nichts außer Zutaten für potentielle Mahlzeiten, die ich gedanklich in zwei Gruppen einteile: Habe ich da. Müsste ich einkaufen. Die letztere Gruppe ist eindeutig voller. Draußen schlägt ein Regenschauer gegen die Scheiben und erstickt jede Motivation im Keim, vielleicht doch zum Supermarkt zu gehen.

Mein Blick kehrt zurück zum Blatt. Doch wie eine Katze, die ungeduldig schnurrend alle Aufmerksamkeit für sich einfordert, brummt mir mein Magen erneut dazwischen. Ich versuche es mit Mediation: Alle Gedanken sind Wolken, die kommen und gehen. Lasse sie ziehen, die verlockenden Vorstellungen von Gerichten, welche ich inzwischen fast schon erschnuppern kann. Schau sie kurz an, dann lass sie passieren, bis dein Kopf vollkommen leer ist. Für eine kleine Sekunde gibt es tatsächlich keinen einzigen Gedanken mehr in mir drin. Kein Gedanke an ein Essen, das meinen Speichelfluss anregt. Auch kein Gedanke, der drückt und zu Ende gedacht werden will. Schlimmer vielleicht noch: in die Tat umgesetzt! So muss es wohl sein, erfolgreich zu meditieren, was mir sonst nie gelingt. Und schon überlege ich, wie viele Leute es wohl von sich behaupten und im Geheimen doch an die nächste Mahlzeit denken. Kaffee mit Kuchen, Pommes mit Steak – Wer schafft das schon, nicht an sowas zu denken, wenn es doch Teil unserer wunderbaren Realität ist?

Ich greife zu meiner Teetasse und führe sie halb automatisch zum Mund. Ein wunderschön geformtes Gefäß aus Ton, das in harmonischen Erdfarben gestaltet wurde und genau die richtige Menge an Schwarztee fasst. Das mich immer wieder an einen ehemaligen, sehr angenehmen Schüler erinnert, der mit besagter Tasse seine Dankbarkeit für unsere gemeinsamen Jahre bekundete. Und während diese Erinnerung zusammen mit dem letzten Schluck Tee für Wärme und Wohlgefühl in meinem Bauch sorgen, kritzelt meine Rechte die letzten Wörter auf das nun volle Blatt. Geht doch, denke ich lächelnd, und jetzt die Pasta!




Kristin Hogk wurde 1978 im sachsen-anhaltinischen Niemandsland geboren, dem sie für ihre Studien zur Übersetzerin, Lehrerin und Schriftstellerin entfloh. Nach Studien- und Arbeitsstationen in den USA, Spanien, Irland sowie verschiedenen deutschen Großstädten lebt, schreibt und unterrichtet sie heute im idyllischen brandenburgischen Eberswalde.








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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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