„Wessen Ablenkung zunahm, dessen Intellekt nahm ab.“

Nora Hamed für #kkl49 „Ablenkung“




„Wessen Ablenkung zunahm, dessen Intellekt nahm ab.“

Lieber Tom,

ich schreibe dir diese Worte aus totaler Verzweiflung. Unsere Beziehung ist belasteter, als du denkst. Um unseretwillen will ich nun Klartext mit dir sprechen.

Kannst du dich an die Zeit erinnern, als alles noch leichter war? Keine digitalen Medien, keine Ablenkung vom Wesentlichen. Wir waren zufrieden und hatten gemeinsame Hobbys, die Endorphine in uns ausgeschüttet haben, die das reale Leben betrafen. Beim Bogenschießen konnte ich mich fokussieren, es waren nur wir und die Stille des Waldes. Wenn wir dann mitten ins Ziel trafen, machte mein Belohnungszentrum einen Luftsprung. Sag mir ja nicht, dass du nicht gespürt hast, wie dein präfrontaler Kortex aktiv war.

Doch jetzt? Ich bin mental erschöpft. Es fühlt sich so an, als wäre etwas in mir blockiert. Mittlerweile fallen mir die einfachsten Aufgaben schwer, weil alles zu viel geworden ist. Du interessierst dich rein gar nicht mehr für meine Ziele oder Bedürfnisse. Als ob alles, was einmal wichtig war, heute gar nicht mehr für dich zählt. Versteh mich nicht falsch, unsere nächtlichen Intimitäten schütten immer noch viele Glückshormone in mir aus, aber für dich zählen heute die Anzahl der Likes unter deinem Beitrag mehr, als reale Liebe. Alle fünf Minuten greifst du zu deinem Handy und checkst deine Benachrichtigungen. Könnten dich die Dinge, die wirklich relevant für unsere gemeinsame Zukunft sind, genauso glücklich machen? Nur noch ein Like mehr unter deinem neuen Bild, dann bist du zufrieden. Zumindest für die nächsten zehn Minuten, kurz bevor sich der Finger wieder auf das pink-gelbe Viereck bewegt. Das Gefühl ist einfach zu gut. Aber wann denkst du an mich? Ich muss alles, das dir nicht passt, abfangen und für dich filtern. Du lebst in den Wochenendaktivitäten unserer Freunde, verfolgst jeden Schritt von ihnen. Dein Finger bewegt sich auf den rot umringten Kreis, auf dem das Foto von Robert und Heidi abgebildet ist. Oh, wie schön, die beiden sind in Paris. Immer diese klischeehaften Fotos vor dem Eifelturm. Doch keiner erwähnt, wie sehr es in den Pariser Straßen müffelt. Wir waren ja auch mal dort, schon vergessen? Wozu also das ganze Theater? Du fragst mich nach dem Namen der Influencerin, die neulich den Rabattcode für die teuren Akne Produkte präsentiert hat. Muss ich wirklich solche unwichtigen Informationen für dich speichern?

Nur damit du noch schnell online shoppen kannst, um die noch immer viel zu überteuerte Skin Care Reihe zu kaufen. Bitte sieh dir doch mal unseren Kontostand an!  Du säufst vielleicht kein Bier, aber dein Energydrink Konsum bereitetet mir genauso Sorgen. Glaubst du das hält uns wirklich in irgendeiner Form wach und konzentriert? Vielleicht einfach weniger Reels bis in die Nacht schauen und früher ins Bett gehen, dann wäre das alles gar nicht notwendig. Wie du vielleicht herauslesen kannst, bin ich ziemlich gereizt und du fragst dich was ich von dir brauche.

Ich wünsche mir mehr Zeit mit dir alleine. Nur du, ich und unsere Gedanken. Bitte reduzieren wir die Bildschirmzeit und verbringen wieder mehr Zeit in der Natur. Du weißt doch, wie gut uns das getan hat. Ich habe gehört, dass Meditieren den Alltagsstress verringern soll. Ich weiß, du hältst nicht viel davon, aber einen Versuch wäre es doch wert, oder? Für uns. Wir sind so abgelenkt vom Leben anderer, dass wir vergessen haben, selbst zu leben. Wir sind so beschäftigt damit, uns die Anerkennung anderer Menschen einzuholen, dass wir vergessen haben, unser eigenes Selbstwertgefühl zu stärken. Unsere Beziehung kann nur stabil bleiben, wenn wir beginnen mehr über uns selbst und unsere Ziele zu reflektieren, kleine Erfolge zu feiern und miteinander zu kommunizieren.

Wir gehören zusammen, das weißt du. Aber ohne dich, kann ich den Ballast unserer Beziehung nicht mehr lange alleine tragen. Du bist ich. Ich bin du.

Für immer.

Dein Gehirn




Nora Hamed wurde 1991 in Wien als Tochter eines Ägypters und einer Österreicherin geboren. Sie lebt und arbeitet in ihrer Heimatstadt als Logopädin und ist Mutter von zwei Kindern. Nach Abschluss mehrerer kreativer Schreibkurse, widmet sie sich mit Leidenschaft ihren Schreibprojekten. Ihre Freizeit verbringt sie gerne aktiv: Ob im Fitnessstudio oder beim 3D-Bogenschießen im Wald- Bewegung und Kreativität sind feste Bestandteile ihres Lebens.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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