Ziehenlassen

Miriam Mlecek für #kkl49 „Ablenkung“




Ziehenlassen

In den nächsten Minuten wird er eine Entscheidung treffen müssen. Seine Entscheidung über Wind und Wellen, Geld und Menschen, Leben und Tod. Breitbeinig und mit herausgestreckter Brust kommandiert er die Brücke des stählernen Fischtrawlers. Er beobachtet misstrauisch eine Ansammlung grauer Wolken, die von einer unsichtbaren Macht getrieben am Nachthimmel entlangeilen und dabei den hellen Vollmond streifen, der ihre Konturen unwirklich aufleuchten lässt. Für einen kurzen Moment löst er seine verschränkten Arme, um sich mit einer Hand über die dunkelblonden Stoppelhaare zu fahren und dem Chor aus tausend Winden zu lauschen, der seine jaulenden Stimmen in die Luft erhebt, begleitet von einem bedrohlich brausenden Meer. Seine zusammengekniffenen Augen versuchen sich in der Dunkelheit ein Bild des aufgepeitschten Ozeans zu machen, als von weit oben ein kalter Gesteinsbrocken hinabstürzt und in Sekunden verglüht, ohne die irdische Aufruhe auch nur annähernd berührt zu haben. Bei steifem Wind erscheinen ihm die Sternschnuppen heller, funkelnder als in stillen Nächten. Auch nach 26 Jahren zur See beeindruckt ihn die kompromisslose Kraft von Wind und Meer immer wieder aufs Neue. Er holt tief Luft und spürt dabei, wie der Sauerstoff seine Lungen füllt. Konzentriert betrachtet er die verschiedenen Parameter auf den Instrumenten. Das Piepsen der Signaltöne verstärkt ein Pochen in seinem Hals. Jeder Pulsschlag ist eine Mahnung, was als Kapitän eines Fischtrawlers alles von ihm abhängt: das Einkommen seiner Besatzung, der Profit der Firma- und das Leben von Menschen und Tieren. Er weiß, sie alle verlassen sich auf seine Expertise. Aber er kennt den Druck, wie einen anspruchsvollen, alten Freund, der ihn jeden Tag auf See begleitet. Wenn der Sturm nur nicht wäre! Über seine Stirn ziehen krause Falten. Respekt vor dem Meer ist wichtig, sonst unterlaufen Fehler, die nicht wieder gut zu machen sind. So wie seine Versäumnisse an Land nie wieder gut zu machen sind.

PIEP.PIEP.

Der eilige Tonfall der Sonare zeugt von vielversprechend großen Fischschwärmen unter seinem Kiel. Normalerweise verspürt er dabei eine innere Aufgeregtheit, eine kribbelnde Vorfreude auf die Jagd. Aber dieses Mal stört ihn etwas an dem Geräusch. Das Piepen erinnert ihn an etwas, an das er nicht erinnert werden will. Nervös streicht er sich zweimal schnell über die Stoppel auf seinem Kopf, die vor zwanzig Jahren einmal dichte Wirbel gewesen waren. Heute Morgen hatten sie noch einen guten Hol erzielt: 80 Tonnen auf einen Schlag! Das bedeutet nicht nur viel Geld, sondern auch ein schnelleres Abschöpfen der Quote und eine frühere Heimfahrt. Seine Mannschaft war laut und gut gelaunt ihrer unerbittlichen Knochenarbeit an Deck nachgegangen, die Rückmeldung von unten aus der Fischfabrik klang hochzufrieden und auf der Brücke rissen sie rohe Scherze. Er mochte diese Hochstimmung nach dem Erfolg, doch sie war angesichts des Wetters schnell abgeklungen- und er war zornig geworden, dass die Bedingungen sich verschlechterten. Aber sein Ärger hält sich nach dem Erfolgserlebnis von vorhin in Grenzen. Es ist eher die Art Ärger, die sich mit einem warmen Unterton vermischt und in einem versöhnlichen Bedauern endet. Hier auf dem Meer macht ihn selten etwas aggressiv. Das war früher anders gewesen, zuhause an Land. War nicht gerade seine Paraderolle als Familienvater, zugegeben. Aber ist etwa alles seine Schuld gewesen? Keine Ahnung von seinem Leben hatten sie gehabt. Schon seine Eltern nicht, die ihn meist bei der Großmutter ablieferten, weil zuhause auf dem Sofa die nächste Flasche wartete. Frau und Sohn konnten mit seinen Seemanns-Geschichten wenig anfangen, wollten immer nur in Ruhe gelassen werden und gingen ihm aus dem Weg. Nichts, was er tat, wenn er an Land war, war ausreichend. Nichts, was er vorschlug, war je angenommen worden. Er fand immer nur das klagende Gejammer der Frau und die geschlossene Zimmertür seines Sohnes vor. Angeblich war von nichts genügend vorhanden gewesen- nicht genug Geld, nicht genug Zeit, nicht genug Verständnis. Dabei war er doch derjenige, der alle versorgte, sich um alles kümmerte. Damit war es sein gutes Recht die Regeln festzulegen, wenn er zuhause war. Sicher, vielleicht war er manchmal zu laut gewesen, vielleicht war ihm auch mal die Hand ausgerutscht. Er konnte sich nicht recht erinnern. Aus der Zeit, als sie noch alle gemeinsam in einem Haus gelebt hatten, gab es nur Fragmente und abgerissene Reste in seinem Kopf, wie Szenen aus einem Film, den man vor vielen Jahren einmal gesehen hat.

PIEP.PIEP.

Unerbittlich schieben sich neue Bilder vor seine Augen, die er einfach nur vergessen wollte. Nicht jetzt! Energisch schüttelt er die Gedanken beiseite. Es ist nicht der größte Sturm, den er je erlebt hat, aber die Lage entwickelt sich grenzwertig für die Arbeit seiner Mannschaft. Mit angespannten Muskeln und nach vorne gebeugtem Rücken lässt er sich in den gefederten Kapitänssessel sinken. Von hier oben betrachtet wirkt das Vordeck klein, die Wellenbrecher weniger bedrohlich und die Unendlichkeit endlich. Umringt von einer Welt aus flimmernden Bildschirmen folgen seine schmalen Augen unablässig den Informationen aus Lichtern, Zahlen und Daten, an denen er sich festhalten kann. Klare Hinweise statt verschlüsselter Botschaften, wie Menschen sie gerne aussenden. Hier gibt es keine tiefere Bedeutung zwischen den Zeilen, keine vagen Andeutungen, die er ständig erraten musste, während der Telefonate mit der Frau, genauer gesagt Ex-Frau. Bei dem Gedanken ballen sich seine breiten Hände gegen seinen Willen zu Fäusten. Wie hatte sie ihn nur so behandeln können? Behandeln wie jemanden der überflüssig war, der keine Ahnung hatte. Als ob sie es besser geschafft hätte für ihren Sohn da zu sein! Nein, sie hatte genauso versagt! Wenn sie deutlich gesagt hätte, was eigentlich losgewesen war bei ihr und dem Jungen. Stattdessen immer nur zynische Kommentare und Beteuerungen, wie gut es den beiden ging- ohne ihn.

PIEP.PIEP.

Das Geräusch bohrt Kopfschmerzen in seinen Schädel. Warum ist es heute lauter als sonst? Die Sonare zeigen immer größere Fischmengen. Trotzdem zögert er. Auf den Monitoren wird das unsichtbare Leben Unterwasser für die Welt darüber sichtbar. Leben! Es erscheint ihm ungerecht, dass all diese Tiere dort unten so quicklebendig ihre Bahnen ziehen, während sein Sohn erstarrt in kalter Erde liegen muss. Er spürt, wie unzählige Neuronen unzusammenhängende Fragen quer durch die Nervenbahnen seiner Hirnareale schießen. Jeder Schuss ein Treffer: Ist der Fischschwarm groß genug? Was hätte er mit seinem Sohn anders machen müssen? Entwickelt sich das Wetter doch zu stürmisch? Wie konnte es so enden? Verdammt, was ist los mit seiner Konzentration! „Wir müssen dringend noch einen Hol machen…. Alles zum Netzauswerfen vorbereiten!“ Er bellt den Befehl seinem Ersten Offizier zu, der ihn zweifelnd ansieht. „Käpt´n …?“ Was soll der Blick? Als ob er je eine schlechte Entscheidung getroffen hätte hier auf See. An Land war das anders gewesen, jaja. Auf dem Schiff dagegen hat er ein Erfahrungsdepot und alles unter Kontrolle. Wieder und wieder streicht er sich über den Kopf und greift zu seiner abgewetzten Tabakdose. An Bord geht es um direkte Gefahr für Leib und Leben, aber es existiert ein unsichtbarer Bund zwischen den Menschen. Hier auf See sind alle, egal welcher Herkunft, welchen Alters oder Geschlechts in einem gemeinsamen Überlebensversuch vereint. Nicht wie an Land, wo sich jeder selbst am nächsten ist. Wo man von heute auf morgen allein gelassen wird, ohne Erklärung.  Wo selbst ein Familienbund nichts mehr wert ist!  

PIEP. PIEP.

Das Pochen in seinem Kopf wird unerträglich. Raus hier! Er beschließt rauchen zu gehen und sich dabei die Bedingungen an Deck selbst anzusehen. Unwirsch dreht er sich die Zigarette zu ende, klopft sie dreimal auf der Tischkante ab und klemmt sich das fertige Resultat hinter sein rechtes Ohr. Die Tür schlägt mit einem lauten Knall hinter ihm zu. Vorbei was dahinter geschah. Mit einer gnadenlosen Endgültigkeit wird das Außen vom Innen getrennt. So wie die Tür hinter seiner Familie ins Schloss gefallen war. Und ihn im Drinnen zurückließ, wütend und machtlos. Die kalte, salzige Luft an Deck peitscht in sein Gesicht. Trotzig nimmt er einen langen Zug. Er muss sich festhalten, um nicht umgeweht zu werden. Mit dem Knall begann das Unglück. Dinge nahmen ihren Lauf, die er nicht mehr unter Kontrolle hatte. Warum waren sie gegangen? Weder seine Frau noch sein Sohn hatten danach auf seine Anrufe reagiert. Irgendwann kam eine Nachricht mit der neuen Adresse, zu der er es nur selten geschafft hat. Zu weit weg, zu weit landeinwärts. Zu lange war er von ihnen abgeschnitten. Wenn er gewusst hätte, was vor sich ging, wäre er sicher öfter hin, hätte vielleicht das Schlimmste verhindern können. Hätte verhindern können, dass sein Sohn immer seltener zuhause war und seiner Mutter Lügen erzählte. Hätte verhindern können, dass sein Sohn über die Jahre den Schatten der Habgier und des Geltungsbedürfnisses in einer Welt der Selbstdarstellung zum Opfer fiel. Sein Sohn, der ihm als Junge entrissen wurde und als Teenager immer öfter von Polizeistationen abgeholt werden musste. „Wächst sich raus“ hatte er da noch gedacht. Aber er hatte sich geirrt. „Bandenkriminalität“ hatten sie gesagt. Keine Chance auf Entwachsen oder Ausstieg, nur immer größere Risiken. Bis die falschen Leute in einem dunklen Park für ein noch dunkleres Geschäft auf ihn warteten. Wie naiv war er gewesen! Es ist kaum noch auszuhalten an der Reling. Der Sturm zerrt unablässig an seinem gesamten Körper. Er zerquetscht den Zigarettenstummel in seiner Faust, ignoriert den Schmerz als die Glut seine Haut versengt und stampft mit wuchtigen Schritten zurück auf die Brücke. Die Tür knallt wieder hinter ihm zu. Das Schlimmste verhindern. Zeit und Geld schwimmen ihm davon, aber er kann keinen weiteren Fang mehr riskieren. Was es ihn kosten wird, die nächsten Stunden untätig an Ort und Stelle zu bleiben, will er gar nicht erst ausrechnen. Und die Konkurrenz schläft nicht. Bei aller Verbundenheit auf See kämpfen sie zuallererst in einem unerbittlichen Wettbewerb, in einem knallharten Geschäft. Am Ende zählt nur der maximale Profit. Seine Laune hat einen neuen Tiefpunkt erreicht. Wutreste schäumen in seinem Mund. „Fischerei einstellen! Netze sichern und alle Mann von Deck. Das wird eine verlustreiche Nacht!“ brüllt er seinem Offizier lauter als nötig zu. Er holt tief Luft. Da ist das Pochen in seinem Hals wieder, die Kopfschmerzen, das Brennen in seiner Handfläche, die Bilder.

PIEP. PIEP.

Dieses Mal ist das Geräusch zu laut, um es zu ignorieren, zu laut, um die Bilder zu verwischen. Widerwillig wandert sein Blick zu den Bildschirmen mit den flimmernden Streifen, die sich langsam weiterbewegen und ihm entkommen. Er lässt sie ziehen. Seine Hand zittert als er sich über den Kopf streicht.

PIEP. PIEP.

Das Zittern war vor zwei Wochen im Krankenhaus das erste Mal über ihn gekommen. Vor ihm hatte ein Bett auf Rädern gestanden. Um das Bett waren Geräte, Schläuche und Kabel in einem Halbkreis aufgestellt gewesen.

PIEP. PIEP.

Sein Sohn hatte bewegungslos dagelegen, das Blut aus der Stichwunde hatte noch an den Laken geklebt.

PIEP. PIEP.

Es kam eine Ärztin.

PIEP. PIEP.

Dann waren die Monitore still geblieben.

So wie er still geblieben war. Und die durchgezogenen Linien angestarrt hatte. Die Schlussstriche unter einem Kapitel Leben.

Man muss es lernen, das Ziehenlassen. Schnell dreht er sich eine neue Zigarette, um das Zittern zu unterdrücken. Seine Gedankenkette setzt sich erneut in Gang. Wind, Wellen, Geld und Menschen. Oder war es eine andere Reihenfolge?




Miriam Mlecek ist Architektin und Programmdirektorin des Aedes Metropolitan Laboratory Berlin. Miriam arbeitete in renommierten Büros in Berlin und Sydney und lehrte an der University of Sydney, sowie an der Fakultät für Architektur und Landschaft der Universität Hannover. Sie gründete das Transit Lounge Studio, ein Experiment für transdisziplinäre Zusammenarbeit in Berlin/Sydney, und war als Mitarbeiterin des Deutschen Architektur Zentrums Berlin, sowie als Co-Kuratorin von Partnerevents des transmediale Festivals tätig. Zudem war sie an der Publikation Selfmade City von Kristien Ring beteiligt und war Mitherausgeberin der Publikation Perception in Architecture zusammen mit der ehemaligen Bauhausdirektorin Claudia Perren.








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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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