Bernhard Brack für #kkl50 „Hingabe“
Wer klopft an die Tür?
Er schläft. Sie sitzt neben ihm, ihre Finger in seiner Hand. Wenn sie tief einatmet, streifen ihre Fingerspitzen seine Handinnenfläche. Das erinnert sie an den Schlaf nach der Liebe, wenn seine Zehenspitzen ihre berührten, ein Blätterrascheln durch ihren Körper ging oder ein Windschauer über den Spiegel ihres Wachbewusstseins, jede Zelle satt und reif und schwer, um abzutauchen in den Schlaf, und weil sie diesen Zustand so liebte, noch ein wenig hinauszögern wollte, fragte sie ihn: „Schläfst du schon?“. Manchmal hörte sie nur seinen Atem, manchmal ein kaum hörbares Nein kurz vor dem Einschlafen.
Sie betrachtet sein Gesicht. Es wirkt entspannt, und doch, im Schatten zwischen seinen Lippen schlängelt sich etwas zwischen Lächeln und Leid. Klammert er sich an etwas?
Unsere Kleider
an bunten Wäscheklammern
zwischen den Wolken
Das hat er zu ihrer Studentenzeit an einem Morgen auf eine Karte von Magritte geschrieben und sie an ihre Kaffeetasse gelehnt, bevor er aus dem Haus gegangen ist.
Er räuspert sich, erwacht und fragt: „Wie spät ist es?“ Noch bevor sie antworten kann, sinkt er in sein Kissen zurück und schläft wieder ein.
Es ist spät, denkt sie, viel zu spät, und möchte weinen. Da klopft es an die Türe, eine Pflegerin.
„Ah, Sie sind da. Brauchen Sie etwas? Sagen Sie es uns einfach, wenn Sie etwas brauchen.“
Die Türe schliesst wieder. Hermetisch abgeschlossener Raum, sie fliegen durch das Weltall, an bunten Wäscheklammern hängen Erinnerungen. Jene Nacht in einem Hotel in Südfrankreich: Er schnarchte so laut, dass auch Oropax nichts nützte, und wenn sie sie tiefer ins Ohr stopfte, es sich unangenehm anfühlte. Sie stupste ihn an, er drehte sich und schnarchte nach einer Weile weiter. Er sägte an ihren Nerven, sodass sie laut hätte schreien mögen. Dazu kam eine Mücke, die sie mit giftigem Ton umsirrte, ihre Stirne mit den Flügeln streifte und ihrem Schlag, der auf die Stirne klatschte, offenbar ausweichen konnte, denn schon bald hörte sie sie wieder, sich nähern und entfernen, nähern … sodass sie wütend aufstand, Licht machte, und die Mücke durchs Zimmer jagte, einige ihrer Brüder und Schwestern an den Wänden entdeckte, ihre Beinchen und Flügel plattgedrückt auf der Tapete, ein Streifen Blut und geplatzte Innereien. Das Zimmer roch nach abgestandener Luft. Ihr wurde schlecht und die Verzweiflung so gross, dass sie plötzlich lachen musste. Er erwachte und fragte, was mit dir sei? Nichts, sagte sie, schlaf ruhig weiter.
Sie atmet aus. Vorbei. Und doch ist alles noch so präsent in ihr, als könnte sie in die Erinnerungen hineingehen. Er erwacht.
„Ich will heim“, sagt er.
„Heim wohin?“, fragt sie
„Heim in unser Windhaus.“
Wie viele Radtouren haben sie gemeinsam unternommen! Einmal machten sie Rast neben einem uralten Wachtturm. Sie spürt noch das Zittern der Lenkstange, als sie über das Gras zu der Bank fuhren. Nach dem Essen legten sie sich ins Gras. Sie hörte das Rauschen der hohen Bäume – waren es Pappeln? – glaubte, das Flüstern der Steine zu vernehmen, die durch Zeitschichten hindurch vom Mittelalter erzählten, döste dahin, eingebettet in zeitlose Geräusche, und erwachte erst wieder mit seinem Kuss auf die Stirne: Komm, meine Windbraut, wir fahren weiter.
„Nimm mich mit“, sagt er, „nimm mich heim zu dir.“
„Ich … ich kann … ich kann nicht“, stottert sie und möchte ihn in den Arm nehmen, doch er ist bereits wieder eingeschlafen mit friedvollem Ausdruck auf dem Gesicht.
Wie oft hatte sie ihre gemeinsamen Kinder angeschaut, wenn sie eingeschlafen sind. Sie konnte ihren Blick kaum von ihnen lösen. Das Wort Engel kam ihr in den Sinn, doch schien es ihr zu kitschig zu sein, um es für das zu verwenden, was sie sah. Eine unverletzliche Schönheit lag auf ihren Gesichtern, ein absichtsloses In-sich-Ruhen. Unschuld könnte es treffen, doch allein schon, weil es Schuld insinuierte, kam es nicht in Frage. Schuld. Das ist es, was sie jetzt ihrem Geliebten gegenüber fühlt. Warum denn? Sie kann ihn unmöglich zu sich heimnehmen.
Er schnarcht kurz auf, legt seinen Kopf seitlich auf das Kissen und atmet wieder ruhig, die Augen geschlossen. Wie tief schläft er? Draussen steigen Rauchfahnen in den Himmel, eine beugt sich in den Wind und verschwindet in einer Nebelbank. Dahinter, und bis ins letzte Detail, taucht ihre erste gemeinsame Nacht auf. Sie weiss noch genau, wie sie die Treppe hochging, vor seiner weissen Türe stand und glaubte, er müsse ihr Herz klopfen hören, es dann wagte, an die Türe zu klopfen – läuten wäre ihr viel zu schrill vorgekommen –, er die Türe öffnete und verdutzt wie auch freudig überrascht vor ihr stand. Sie weiss noch, wie sie sich Stunden später, nach einem Glas Wein und einem Spaziergang durch die ihm vertraute Stadt, auszog und zu ihm ins Bett legte, die ersten Berührungen, zaghaft und scheu, Federstriche auf Wasser, bestimmter dann, fester und leidenschaftlicher. Sie tauchte ab in ein Meer von Berührungen, von Festhalten, Küssen, erschöpft Auseinanderfallen, Einschlummern, Erwachen an einem Atemzug, der die Schulter streift, an einem Streicheln im Nacken, und wieder Feuer spüren, das brennende Feuer im Beckenboden …
„Sind sie informiert?“, fragt er.
„Wer meinst du?“
„Unsere Kinder. Ich meine, wissen sie …“
„Ja, sie werden in wenigen Stunden hier sein.“
Er schliesst seine Augen wieder, nur sein Atem und das Blubbern der Infusionsflasche. Wie hat sie mit ihren Geschwistern um die Formulierung der Todesanzeige ihrer Mutter gerungen! Sie ist friedlich entschlafen … aufgehoben in Gottes Händen … Sie wollte in der Todesanzeige etwas Persönliches von ihrer Mutter, etwas, woran sie glaubte, keine verbalen Beruhigungstabletten? Doch jetzt hätte sie eine gebrauchen können.
Nach kurzem Klopfen tritt eine Pflegerin ein.
„Entschuldigen Sie, wir möchten ihn gerne Umlagern.“
Die Jahre, nachdem die Kinder ausgezogen waren, schliefen sie in getrennten Schlafzimmern. Nicht nur, weil sie einen anderen Tag-Nacht-Rhythmus hatten, sondern auch, weil er nachts zwei- bis dreimal aufstehen musste, um auf die Toilette zu gehen. Für gemeinsame sinnliche Treffen hatten sie Termine vereinbart. Das Klopfen an die Türe des andern wurde zu einem Ritual, auch die Überraschung, die dahinter wartete.
„Die wichtigen Papiere …“, sagt er.
„Welche wichtigen Papiere?“
„Dort“, sagt er und hebt erschöpft den Zeigefinger, „dort in der Schublade.“
Sie öffnet die Schublade, zieht ein Couvert heraus mit der Aufschrift „wichtige Papiere“ und findet darin seine Patientenverfügung, das Familienbüchlein und einen alten Impfausweis.
„Ist das Gedicht von Rumi auch dabei?“
„Ja.“
„Lies es mir vor, bitte …“
Sie überfliegt es, fühlt Tränen hochkommen von tief unten, kann sie mit leerem Schlucken gerade noch unterdrücken und beginnt zu lesen:
On the day I die
On the day I die, when I’m being carried
toward the grave, don’t weep. Don’t say
Sie hört ihn mitmurmeln, spürt, wie ihre Stimme über die Brüchigkeit des Lebens hinwegfliesst, ein unfassbares Geheimnis spiegelnd.
He’s gone! He’s gone. Death has nothing
to do with going away. The sun sets and
the moon sets, but they’re not gone.
Death is a coming together. The thomb
looks like a prison, but it’s really
release into union.
Sie sieht ihre beiden Kinder über den Parkplatz laufen, er eilt ihr voraus. Kinder sind sie schon lange nicht mehr, und doch, jetzt gerade hat sie das Gefühl, sie kämen heim, heim vom Spielplatz, von der Schule …
The human seed goes
down in the ground like a bucket into
the well where the Unnamed is. It grows
comes up full of some unimagined beauty.
Your mouth closes here an immediately
opens with a shout of joy there.
Bernhard Brack, 1957, ist in Abtwil/SG aufgewachsen. Nach Wanderjahren und verschiedenen Arbeitsstellen im Ausland bildete er sich zum Sozialarbeiter aus. Er war als solcher 33 Jahre in St. Gallen tätig und ist inzwischen pensioniert. Neben seiner Arbeit schrieb er die Geschichten alter Frauen und von Klient:innen auf. Er experimentiert als dichtender Kellner, Traumsammler und TrouvAmour. Sein letztes Werk, unten durch, das im Sommer 2024 im ILV-Verlag erschienen ist, handelt von einem Bankraub, den ein Sozialarbeiter gemeinsam mit seinen Klient:innen plant und durchführt: www.untendurch.jimdofree.com Seit Dezember 2024 besteht eine Webseite über seine Tätigkeit als TrouvAmour: www.trouvamour.ch
Literarische Tätigkeit, Publikationen:
- Schräg fällt das Licht, Gedichte, Bernhard Brack, Poesie 21 von Anton G. Leitner, Verlag Steinmeier, Deiningen, 2015
- Lyrik und Prosa unserer Zeit, Anthologie, Karin Fischer Verlag, 2015
- So bist du gegangen, Väterchen, Erzählungen, Bernhard Brack, Orte Verlag, 2016
- Klartext Deutsch 5, Hilger/Rethi/Schicker, Schulbuch Nr. 181785, Verlag Jugend & Volk Gmbh, Wien, 2017
- Die SoG Sonntagsgedichte, hersg. Rainer Stöckli, Orte Verlag, 2019
- Liebe, Lust und Langezeit, Gedichte, Bernhard Brack, ILV-Verlag Basel, 2021
- Krieg, Krankheit und Vergebung, erzählte Geschichte, Bernhard Brack, ILV-Verlag Basel, 2022
- Unten durch, eine St. Galler Kriminalgroteske, Bernhard Brack ILV-Verlag Basel, 2024
- Das Gedicht, Menschlichkeit, Poesie der Nähe, Anton G. Leitner Verlag, München 2024
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