Als das Dienen noch willkommen war

Dr. Susanne Konrad für #kkl50 „Hingabe“




Als das Dienen noch willkommen war

Es war einmal eine Bauerntochter, die war nicht besonders hübsch, aber dafür klug im geistigen wie im praktischen Sinn. Sie lebte mit ihren Eltern auf einem größeren Gehöft, wo sie einiges zu bewirtschaften hatte. Je weiter sie heranwuchs, desto deutlicher spürte sie, dass ihre Eltern sie festhalten wollten. Immer neue Arbeiten trugen sie ihr auf, wie das Ausmisten des Schweinestalls, das Melken der Kühe und das Striegeln der Pferde. Gerda, so hieß das Mädchen, aber machte sich nicht viel aus Tieren. Sie hatte zwei Brüder, die ebenfalls hart arbeiteten, aber mit ihrer Situation zufrieden schienen. Die junge Frau wollte nur eines – fort – aber sie wusste nicht, wie. Denn Mutter und Vater passten gut auf sie auf, und als sie ins heiratsfähige Alter kam, gaben sie erst recht Acht, dass sie sich nicht zu weit vom Hof entfernte. Gerda setzte sich in den Kuhstall und schlug die Hände vor das Gesicht. Da hörte sie ein Geräusch, das nicht von einer Kuh stammen konnte. Sie vernahm ein Rascheln und ein leises Gurgeln, aber da war kein Wasser im Stall außer der Tränke. Gerda lugte zwischen den Fingern hindurch und erblickte eine alte Frau mit langen, weißen Haare. Ein sanfter Lichtschein umgab sie, sodass Gerda ihre Angst verlor und ihre Hände sinken ließ.

„Es wird Zeit für dich zu gehen“, sagte die Alte. „Wenn du jetzt nicht gehst, ist es zu spät und du wirst zwischen deinen Brüdern und den Frauen, die sie sich nehmen werden, einsam auf diesem Hof alt werden, so wie ich es jetzt bin.“

„Wer bist du?“

„Ich bin die Mentorin deines Unbewussten und ich sage dir jetzt: Wenn du auf deinem Weg ins Leben drei Aufgaben erfüllst, dann wirst du reich belohnt werden. Solltest du nicht heute noch aufbrechen, dann werden deine Füße wie Blei werden und dein Leib wird verdorren. Solltest du dich an die drei Aufgaben wagen und dann scheitern, wirst du in einem Zwischenzustand verharren. Ich aber werde dich unsichtbar begleiten und in deiner Nähe sein.“

Gerda sah noch einmal auf, da war die Greisin verschwunden. Gerdas Herz klopfte. Ohne zu zögern verließ sie den Stall und schlich in ihr Zimmer, wo sie ihr Geldsäckchen, feste Schuhe und einen Mantel hatte. Diese legte sie an und machte sich auf den Weg. Bis zum Sonnenuntergang folgte sie einem Feldweg, dann bog sie in einen steinigen Pfad ein, der zu einem unbekannten Dorf führte. Gerda hatte Hunger und sehnte sich nach einer Rast. Als sie vor dem wohl einzigen Gasthaus stand, wurde sie von einem Krüppel angesprochen. Der hatte nur ein Bein und half sich mit Krücken. Der Krüppel sagte: „Wenn du mit mir kommst und in diesem Gasthof mit mir speist, helfe ich dir weiter auf deinem Weg.“

„Gern“, sagte Gerda, denn sie hatte Hunger.

„Scheust du dich nicht vor mir?“, fragte der Krüppel.

„Nein, warum?“

„Bist du auch bereit, nach dem Essen mit mir in einem Bett zu schlafen?“

„Wenn du mich nicht missbrauchst, dann meinetwegen.“

Gesagt, getan. Sie aßen zusammen, dann gingen sie die Treppe hinauf in eine Kammer und legten sich hin, bis der Krüppel einen Kuss forderte. Gerda wollte ihn nicht verletzen und küsste ihn. In diesem Moment war der Krüppel verschwunden und an seinem Platz im Bett lag ein eiserner Schlüssel. Gerda nahm ihn an sich und schlief fest bis zum Morgen. Anderntags frühstückte sie noch im Gasthof und machte sich weiter auf den Weg ins Ungewisse. Sie hatte noch keine Ahnung, was sie mit dem Schlüssel anfangen sollte, aber er war für sie wie ein Pfand für die Aussicht, dass alles ein gutes Ende nehmen würde. Gerda verstaute den Schlüssel tief in ihrem Geldsäckchen. Sie dachte an die Greisin: War die Begegnung mit dem Krüppel die erste Aufgabe gewesen?

Im nächsten Dorf traf sie auf einen alten Mann, dessen Körper vom Alter ausgezehrt war. Er saß auf einem Brunnenrand und bekam den Krug nicht aus dem Wasser. Gerda half ihm, an dem Seil zu ziehen und der Alte bedankte sich. Dann fragte er: „Möchtest du zu mir in mein Haus kommen? Ich möchte dir meine Dankbarkeit erweisen. Gerda zögerte. Der Alte war liebenswürdig, aber er schuldete ihr doch keinen Dank. Sie sah in seine bittenden Augen.

„Meinetwegen.“

Langsam ging Gerda neben ihm her, während er mit seinem Gehstock kämpfte. Das Haus des alten Mannes war klein und aus groben Steinen ohne Verputz gebaut. Der Greis führte Gerda in das karge Hausinnere und sagte: „Ich habe so lange nicht mehr geliebt. Willst du mich lieben?“

Gerda liebte ihn und in dem Moment war der Alte verschwunden und auf dem Boden lag eine Schatzkarte. Sie war aus Leder und zwischen verschiedenen Linien waren zwei auseinanderliegende Kreuze aufgezeichnet. Gerda hob die Karte auf und machte sich wieder auf den Weg – jetzt aber mit einem Ziel. Sie folgte einem leuchtenden Punkt auf der Karte, der sich in Richtung des zweiten Kreuzes bewegte. Plötzlich wurde sie von einem hässlichen Räuber überfallen, der ihr den Geldbeutel entreißen wollte, aber nun steckte der Schlüssel darin, der eine solche Kraft besaß, dass der Räuber den Geldsack nicht von Gerdas Hals bekam und von ihr ablassen musste. Ihre Schatzkarte aber hatte das Mädchen nicht losgelassen. Als Gerda den Schmutz und den Schrecken von sich abgeschüttelt hatte, gelangte sie in eine Stadt, die von einem König regiert wurde. Das Kreuz auf Gerdas Karte zeigte genau zu seinem Schloss. Würde Gerdas Schlüssel hier irgendwo passen? Sie beschloss, den König persönlich zu fragen und stieg die steile Treppe zu seinem Schloss hinauf. Oben bat sie um Einlass. Ein Türhüter in Ritterrüstung verlangte, dass sie seinen Blechkopf durch die Klappe vor seinem Gesicht aufschloss. Gerda drehte mit ihrem Schlüssel an seinen Nasenlöchern und der Türhüter fiel in sich zusammen. Hinter ihm öffnete sich eine eisenbeschlagene Flügeltür aus dunklem Holz. Gerda ging hindurch und gelangte geradewegs in die königlichen Gemächer. Auch der König war schon ein alter Mann, dessen ausuferndes Barthaar schon lange nicht geschnitten zu sein schien. Er saß in seinem roten Umhang an einem massiven Holztisch, fast schwarz war. Freundlich hieß der König Gerda willkommen und sagte dann zu ihr: „Wenn du mich tötest, wirst du die Tür finden, in die dein Schlüssel passt.“

Gerda schluckte. Der Gedanke daran, einem anderen Menschen etwas anzutun, war ihr vollkommen zuwider. Aber dann sah sie in die flehenden Augen des Königs und sagte: „Wenn ihr euch das so sehr wünscht, Majestät, dann soll es so sein.“

Sie nahm den Dolch, der neben ihm auf dem Tisch lag und stieß ihn dem König ins Herz. Im selben Augenblick war der König verschwunden und die alte Frau aus dem Kuhstall war plötzlich da.

„Bravo Gerda, du hast alle drei Prüfungen bestanden. Jetzt folge mir mit deinem Schlüssel und sieh, wie du für deine Beherztheit belohnt wirst.“

Die Alte ging Gerda voraus zu einer verschlossenen Tür, die schlicht war und weiß, und der Schlüssel, den ihr der Krüppel hinterlassen hatte, passte genau.

Hinter der Tür befand sich ein Wohnzimmer, in dem Gerdas Eltern und Brüder saßen und die Frauen, die ihre Brüder inzwischen gefunden hatten.

„Wir sind hier nur zu Besuch“, beteuerten sie gleich. „Dies ist dein Königreich, liebe Gerda.“

Da entdeckte Gerda eine weitere Person im Zimmer. Es war ein Mann im besten Alter. Seine Gesichtszüge schienen sowohl zu dem Krüppel als auch zu dem Greis am Brunnen zu passen. Das Gesicht des Königs war ja vor lauter Bart kaum zu erkennen gewesen, aber auch er hatte den gleichen Ausdruck in den Augen gehabt. Der Mann, dessen Körper unversehrt war, sagte: „Ich liebe dich für deine Hartnäckigkeit und für deine Aufrichtigkeit. Du hast mich in jeder Gestalt erkannt. Sag, Gerda, möchtest du meine Frau werden?“

„Ja!“, rief Gerda, lief auf ihn zu und umarmte ihn. Und sie belebten das Schloss mit einem glücklichen Verlobungsfest.




Dr. Susanne Konrad, geboren 1965 in Bonn, schreibt deutsche Gegenwartsprosa. Sie studierte Deutsch und Geschichte und promovierte 1995 in Frankfurt am Main. Sie ist Autorin von Romanen, Erzählungen und Schreibratgebern mit besonderem Schwerpunkt auf Inklusion und seelischer Gesundheit sowie auf Aspekten des kreativen Schreibens. Herausgeberschaften, die Leitung von Schreibwerkstätten und Lesungsorganisation gehören ebenfalls zu ihren Tätigkeiten. Sie ist in der freien Literatur- und Schreibszene aktiv, mit Schwerpunkt Frankfurt am Main.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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