Grand Central

Bernd Krippl für #kkl50 „Hingabe“




Grand Central

Nach dem Tauwetter wurde es frühlingswarm, föhnig vielleicht, jedenfalls versprach mir die Witterung Ende November nichts, nichts Konkretes, leere Luft, die aber doch Spannungsfelder, Ladung besaß. Ein Mann trägt auf der Haut viele fühlige Härchen, die ihn vor-vorwarnen.

Nein, den kaum merkbaren Anstoß gaben nicht die gesprochenen Worte, sondern die tonlosen. Ich meine auch, sie hatte Kreide gefressen, ihre Stimme geschönt, um das, was nicht da war, zu verdecken. Ich suchte das Vertraute, was uns barg und was uns ausmachte. Aber genau das hatte sie beim letzten Telefongespräch ausgelassen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Auslasser schon vor unserem Gespräch bemerkt hatte. Es wurde wahrnehmbar, aber noch nicht deutlich. Und dann war plötzlich doch alles wieder gut. Als das Andere aber wiederkam, machte sie es unangreifbar, denn es existierte nicht, sagte sie. Sie sagte: „Du spinnst, Mark, es ist alles in Ordnung. Ich bin nur ein wenig müde.“ In dem verdammten zweiten Satz lag der tote Hase. Übersetzt und ins Reine gesprochen heißt das doch: Ich will jetzt nicht, ich kann nicht. Und ich höre ganz genau, der zweite Satz ist gestriegelt. Mag ja sein, dass du müde bist, aber warum höre ich die leise Drohung, ich bin deiner müde; vielleicht auch in der Zukunft. Der dritte Satz: Gute Nacht, schlaf gut, war schon das Pflaster auf die Wunde.

Die Musik vom Vorabend klang in meinem Kopf nach. Die Lieder waren mir noch dick im Blut. Der sentimentale Schmerz, der Stachel mit der roten Rose, der Rhythmus der weiterging; sie waren die Melancholie, die sich über den kalten Abschied legte. Wir betraten die große Halle und lasen, die Hälse nach oben, die klickenden, schwarzweißen Schildchen, die die Abfahrtszeiten stetig neu umblätterten und näherrücken ließen. Weil ihr Kopf noch nach hinten lehnte, wagte ich den ersten Schritt. Weil ihr Körper Balance suchte, fand mein Arm ihre Taille. Der zweite Schritt wurde Bewegung. Die Musik kam leise aus mir und dicht genug an ihr Ohr. Grand Central war unser Ballsaal. Die Festhalle erleuchtete, sie wurde der Spiegelsaal für unsere Wesenszüge. Zwei Viertel- und vier Achtel-Takt, Dreh- und Paartanz aus Buenos Aires, Argentina, wir tanzen Tango.

Von Anfang an erst die Seele, dann mit dem jungen Mädchen, das sich öffnet, dann mit ihrem Leib, dann mit dem Weib, ihrer Frucht und ihren Jahren. Die Augen kennen keinen anderen Blick als ihren. Es wird das Fallen nach oben und das Öffnen der Schleusen für das Meer.

Es war ein weltliches Erleben zum Anfassen, eine körperliche Wirklichkeit, die sich auch dann nicht vergeistigen lassen wollte, als sich die Emotionen verselbstständigten. Die Gefühle trieften im Tango, das wussten wir, das wussten wir bis zum Schluss, bis der Zug abfuhr, deswegen war nichts falsch.




Bernd Krippl wurde 1950 in Bad Neuenahr geboren. Er wuchs in Wuppertal auf und studierte Biologie. Nach seiner Promotion arbeitete er in Washington D.C. und in New York. Nach langjährigem Aufenthalt in den USA kehrte er nach Deutschland zurück. Von 1994 bis 1997 lebte er in den Niederlanden. Dort begann er als Schriftsteller und Übersetzer zu arbeiten. Am Goethe-Institut in Rotterdam moderierte er Vorträge und Lesungen. Bernd Krippl schreibt Romane, Kurzgeschichten und Lyrik.

Romane:

https://www.amazon.de/Bücher-Bernd-Krippl/s?rh=n:186606,p_27:Bernd+Krippl

Extravaganzen, Aphorismen und Schlagworte

Weblog

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Musik und Lyrik

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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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