Florian Stöckle für #kkl50 „Hingabe“
Großmutter Gutmut
Es gibt eine Frau, die schon immer nur Gutes tut. Diese Frau heißt Gutmut, als hätten ihre Eltern gewusst, welches Leben ihre Tochter später führen würde.
Gutmut engagiert sich aufopfernd für alle Hilflosen und Ausgestoßenen. Gott, oder wer auch immer dafür zuständig ist, beschenkte Gutmut mit einem langen Leben. Nachdem sie die 60 überschritten hatte, merkte Gutmut, dass sie nicht mehr alterte. Schon 179 Jahre lebt Gutmut inzwischen und in all der Zeit wollte sie nie etwas anderes tun, als anderen Menschen zu helfen.
Eines Tages ging Gutmut von Tür zu Tür, um für zwei Wohltätigkeitsorganisationen zu werben. Dabei spazierte sie an einer Brücke vorbei. Voller Schreck stellte sie fest, dass unter der Brücke Menschen lebten. Drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, spielten neben ein paar Hügeln aus Schränken und Haushaltsgegenständen Fußball. In der Müllhalde lagen drei Matratzen und zwei Schlafsäcke herum. Auf einer Matratze lag eine Frau eingerollt in zwei Decken und schlief.
Gutmut rief die Familie zu sich. Die Schlafende rührte sich nicht, aber die Kinder wagten sich langsam und schüchtern heran. Gutmut stellte sich ihnen als „Großmutter Gutmut“ vor, die, schon seit sie denken konnte, all jenen half, denen es schlecht ging.
Die Kinder schilderten Gutmut ihre schreckliche Lage. Ihre Eltern waren Arbeitsverweigerer. Sie wollten auf gar keinen Fall arbeiten, weil sie Arbeiten ganz entsetzlich schlimm fanden und die Mutter obendrein an einer Depression litt. Das Jobcenter hatte den Eltern das Geld gekürzt, sodass die Familie gezwungen worden war, aus ihrer Wohnung auszuziehen. Der Vater würde momentan jeden Tag nach einer nächtlichen Unterkunft für sie alle suchen. Die Eltern würden sich nämlich durchaus sehr um ihre Kinder sorgen, nur arbeiten wollten sie nicht und die Kinder erwarteten von ihren Eltern auch nicht, dass sie arbeiteten, weil sie wussten, wie schlimm das für die Eltern war.
Gutmut empfand sofort größtes Mitleid für die Familie. Über das unsoziale und undemokratische Verhalten des Staates wusste sie bestens Bescheid. Die Grundsicherung reichte kaum zum Leben. Dann durfte sie auch noch gekürzt werden, wenn die Bezieher nicht taten, was das Jobcenter von ihnen verlangte. Gutmut fand, dass der Staat kaum eine Minderheit so grausam behandelte wie Arbeitsverweigerer. Seit vielen Jahren lieferte sich der Gesetzgeber einen Spießrutenlauf mit dem Bundesverfassungsgericht darüber, wie schlecht er Arbeit verweigernde Grundsicherungsbezieher behandeln durfte. Eiskalt schränkte der Gesetzgeber den Beziehern das Existenzminimum ein und damit auch die gesellschaftliche und demokratische Teilhabe.
Gutmut war der Meinung, dass es der Gesellschaft gewaltig an Mitgefühl fehlte. Manches durfte man von Anderen einfach nicht erwarten. Wer es entsetzlich fand zu arbeiten, sollte nicht dazu gezwungen werden. Derjenige war nicht einmal unbedingt faul. Er benachteiligte auch niemanden, der es nicht schlimm fand zu arbeiten, indem er nicht arbeitete.
Den Staat kosteten die Arbeit verweigernden Grundsicherungsbezieher Steuergeld, doch auch sehr viele andere Bürger kosteten den Staat Steuergeld. Es war doch nur Geld! Gutmut lehnte es entschieden ab, den Wert eines Menschen in Geld aufzuwiegen. Nach Gutmuts Erfahrung wollten die allermeisten Menschen arbeiten. Deshalb sah sie überhaupt kein Problem darin, die nicht arbeiten wollende Minderheit mitzufinanzieren. Sicherlich müsste die Gesellschaft auf etwas Wohlstand verzichten, hätte dafür aber glücklichere und gesündere Menschen.
Gutmut fand es gerecht, sozial und demokratisch, wenn diejenigen, die viel Geld hatten, denen etwas abgaben, die wenig oder gar nichts hatten, damit alle in gleich guten Verhältnissen leben konnten. Weil das nicht alle freiwillig taten, sollte der Staat das gesamte Einkommen und Vermögen unter allen Menschen gerecht verteilen. Solange der Staat das nicht tat, sah Gutmut es als ihre Aufgabe an, den Armen zu helfen. Allen Armen, auch jenen, die arbeiten konnten, es aber nicht wollten.
Dass die Mutter der Kinder krank war, verwunderte Gutmut überhaupt nicht. Viele Grundsicherungsbezieher waren krank. Vielleicht waren die niedrige Höhe der Grundsicherung und die Sanktionen mit schuld daran. Sie hatte von Studien gehört, die zu genau diesem Ergebnis gekommen waren. Und trotzdem war die soziale Kälte gegenüber den Ärmsten unglaublich weit verbreitet.
Gutmut schluckte ihren Zorn hinunter. Sie setzte ein freundliches Gesicht auf, wie sie es tagtäglich tat, und forderte die Kinder auf: „Überlegt Euch ein jeder so viele Wünsche, wie Ihr wollt. Sie dürfen Anderen nicht schaden. Geld kosten dürfen sie aber schon. Formuliert sie ganz deutlich. Fangt am besten an mit ‚ich wünsche mir‘. Schließt danach die Augen und glaubt fest daran, dass Eure Wünsche wahr werden!“
Die Kinder nahmen sich an den Händen und sagten nacheinander ihre Wünsche auf. Sie wünschten sich Lebensmittel, weil sie hungrig waren, ein großes Haus mit Garten, weil sich das ihre Mutter immer gewünscht hatte, einen Pool, weil sie gerne schwimmen lernen wollten, und zwei schicke Autos für ihre Eltern, weil andere Erwachsene die auch hatten.
Als die Kinder ihre Augen wieder öffneten, forderte Gutmut sie auf, sich umzudrehen.
Hinter der Müllhalde aus Krimskrams stand auf einmal ein großes weißes Einfamilienhaus. Es trug Photovoltaikplatten auf dem roten Dach und hatte eine breite Garage, in der zwei schicke Autos standen. Außerdem hatte es einen großen Garten mit einem großen Pool. Der Garten wurde von einem knallgelben Holzzaun eingerahmt. An den Rändern des Gartens wuchsen viele Obstbäume und Beerensträucher.
Großmutter Gutmut und die Kinder freuten sich über die wahr gewordenen Wünsche.
Gutmut erklärte den Kindern, dass die Schränke im Haus prall mit Lebensmittel gefüllt seien und ihre Eltern jeden Monat eine Überweisung von ihr erhalten würden, damit sie für immer in dem Haus wohnen bleiben könnten. Sie sagte den Kindern auch, dass es in ihrer Lage völlig nachvollziehbar sei, sich materielle Dinge zu wünschen. Dann erklärte Gutmut den Kindern noch, dass ihnen der just erworbene Wohlstand zustehe. Denn ein jeder habe es verdient, in den bestmöglichen Verhältnissen zu leben.
Ja, wirklich: Es gibt einen Engel auf Erden, der Gutmut heißt und den Ausgestoßenen der Gesellschaft Wünsche erfüllt. Vielleicht begegnet auch ihr irgendwann dieser rechtschaffenden Frau.
Florian Stöckle, im Oktober 1993 in Günzburg geboren, studierte nach dem Abitur Germanistik und Geschichte an der Universität Augsburg. In Germanistik schloss er im Anschluss den aufbauenden Masterstudiengang ab. Geschichten schreibt er seit seiner Kindheit, am liebsten Fantasygeschichten. 2019 nahm er an einem Studierendenseminar der Bayerischen Akademie des Schreibens teil. Mehrere seiner Geschichten wurden schon veröffentlicht. Florian Stöckle wohnt in der Nähe von Augsburg.
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