Flusslandschaften

Elisabeth Bendl für #kkl50 „Hingabe“




Flusslandschaften

Er wird sie sehen. Lucia hatte bei all der Arbeit, die sie für das Anlegen ihres Tinderprofils, das Aussortieren der Matches, den Chats und Telefonaten und dem ersten unverfänglichen Treffen zunächst nicht bedacht, dass ohne großen Zweifel irgendwann der Moment kommen würde, an dem sie ihre Maskerade ablegen musste. Dass der Moment kommen würde, an dem ihr Körper diesem Mann, den sie so sorgsam ausgewählt und der sich als durchaus reizvoller Mensch entpuppt hatte, ausgeliefert sein wird. Bislang konnte sie sich hinter ihren vielen Rollen verstecken. Lucia, die Humorvolle. Lucia, die Tüchtige. Lucia, die Liebenswerte. Lucia, die Attraktive. Was auch immer ihm gefallen könnte. Das, was sich eine Schicht darunter abspielte, sollte er zunächst nicht erahnen.

Doch an diesem Tag waren sie an einem Punkt angelangt, an dem ihr nichts anderes mehr übrig blieb, als sich zu zeigen. Ganz oder gar nicht. Dass Lucia es zulassen würde, war unumgänglich, es war an der Zeit. Viel zu lange war es her, dass ein Mann sie berührt hatte.

Den Abend hatte sie perfekt arrangiert, Lucia beherrschte ihr Handwerk, wusste, was Männer hören wollen. Danach noch ein Glas Wein bei ihm Zuhause, beiden war klar, was das bedeutete.

Die Küsse wurden intensiver, seine Hände suchten nach dem richtigen Weg und wähnten ihr Ziel unter Lucias Bluse. Sie spürte, wie ihr Herz mit jedem Schlag das Blut stärker in ihren Kopf pumpte und sich bereit machte, zu explodieren.

Lucia sprang auf und flüchtete ins Bad, krallte sich am Rand des Waschbeckens fest und hielt sich nur mehr mit Mühe auf den Beinen. Sie starrte in den Spiegel. Erinnerte sich an die Techniken, die sie gelernt hatte, um die Panik wegzuatmen. Ihr Herz beruhigte sich und ließ sie wieder die Führung übernehmen. Sie hasste es, die Frau zu sein, die sie vor sich zu glauben sah. Lucia richtete sich auf, ließ kaltes Wasser über ihre Hände fließen.

Sie neigte den Kopf zur Seite, beobachtete ihr Spiegelbild, tastete mit ihren feuchten Händen über ihre Wangen, ihren Hals, über die Knöpfe der Bluse. Am Saum angekommen, hielt sie inne. Mit Bedacht schob ihre Bluse hoch, zögerte, wusste nicht, ob sie den Anblick ertragen könnte. Ihre Hände kamen ihr zuvor, schoben die Bluse bis zu ihren Brüsten hinauf.

In ihrem Spiegelbild betrachtete Lucia die Narben, die sich wie Wasserläufe eines Flusses über ihren Körper zogen. Und sie spürte die Schmerzen so intensiv wie an jenem Tag, als ihr Leben gerettet und ihr Körper zerstört wurde. Sie fühlte, hier in diesem Moment, wie das Skalpell durch ihre Haut gezogen wurde, langsam, mit Präzision, purer Schmerz, der sich in ihrem Körper ausbreitete. Doch sie wendete den Blick nicht ab, setzte den nächsten Schritt.

Lucia öffnete ihre Bluse, ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Ihre Fingerkuppen ertasteten die erhabenste Narbe, die sich in gerader Linie gleich einem regulierten Fluss über ihren Bauch zog. Knapp unter dem Bund der Unterhose wurde der erste Schnitt gesetzt, Abzweigungen führten von dort weg in weißen, unsteten Linien zu anderen Gebieten ihres Körpers. Doch die Fingerspitzen folgten dem geradlinigen Narbenfluss hinauf bis zum Nabel, weiter Richtung Brust. Lucia neigte den Kopf. Wäre ihr Körper eine Flusslandschaft, zeigte er die bizarren Launen, die die Natur hervorbrachte.

Weiter.

Sie öffnete den BH, streifte ihn mit Bedacht ab, erkannte, wie der Fluss direkt unter ihrer rechten Brust mündete. Von dort aus zog sich ein zarter Schnitt, einer der wenigen, die der Chirurg wohl zögerlich getätigt hatte, in einer sanften Kurve bis hinauf zu ihrer rechten Brustwarze.

Sie schloss die Augen. Es war zu früh, er würde den Anblick nicht ertragen.

Sie hatte das Klopfen an der Tür überhört und bemerkte zu spät, dass er hinter ihr stand und die Augen nicht von ihrem nackten Körper abwendete. Er trat einen Schritt näher, sie spürte seinen Atem an ihrem Hals. Seine Hände legten sich auf ihre Arme, glitten an ihr hinab, hielten erst dort an, wo der erste Schnitt gesetzt wurde. Er legte seine Finger auf die Wunde, wartete noch einen Moment ab und tauchte ein in die Flusslandschaft, einzig und alleine, um ihren Körper zum Leben zu erwecken.




Elisabeth Bendl studierte Germanistik an der Uni Wien und arbeitet „immer schon“ in der Medienbranche. Ihr Herz hängt schon seit geraumer Zeit am Verfassen von Auftragsbiografien. Ganz nach dem Motto „jedes Leben ist erzählenswert“ unterstützt sie Menschen dabei, ihre Lebensgeschichte auf Papier zu bringen.






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Hinterlasse einen Kommentar