Sonja Dohrmann für #kkl50 „Hingabe
Seltsames Erbe
„Mama, du spinnst. Was du machst, ist doch verrückt.“
Diese Worte klingen noch in meinen Ohren, als ich letzte Kartons beschrifte. Nur noch ein paar Sachen aus dem Badezimmer, dann ist alles verstaut. Um acht Uhr soll die Umzugsspedition kommen. Ist mein Vorhaben wirklich verrückt? Meiner Ansicht nach ist es eher ein Sich-hingeben. Ja, ich gebe mich einer Liebe hin, jedoch nicht der zu einer Person, sondern der nach einer Gegend. Meine Sehnsucht hält nun schon unvermindert viele Jahre an. Ausgelöst – man mag es kaum glauben – durch meine Mutter!
Vor etlicher Zeit war mir ein Buch in die Hände gefallen, in dem es um Trauma-Vererbung ging. Darin wurde dargelegt, dass schlimme Erlebnisse selbst bei Kindern von Geschädigten und sogar noch bei späteren Generationen psychisch bedingte Krankheiten auslösen könnten. Diese Informationen über Vererbungen, ausgelöst durch negative Emotionen und Erlebnisse, führten bei mir zur Überlegung, ob es umgekehrt auch eine durch sehr positive Gefühle ausgelöste Vererbung geben könnte. Ich war der festen Überzeugung, meine Mutter hatte mir ein Heimatgefühl vererbt, obwohl sie dieses Gefühl mit einer Gegend verband, die nicht mit ihrer oder meiner regionalen Herkunft übereinstimmte. Erst ein Urlaub hatte dieses Gefühl in meiner Mutter keimen lassen.
In den 50er und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts war Italien das Traumziel vieler Deutscher, mit dem man Sonne, Strand und Meer, aber auch Kunst, Kultur und Dolce Vita verband. Daran waren meine Eltern nur wenig interessiert. Als sie endlich in der Lage waren, sich Urlaub zu gönnen, ging es für sie zwar auch Richtung Süden, allerdings nicht ganz so weit, aber wenn man aus Hamburg kommt, liegen die meisten Urlaubsziele schon recht südlich.
Diese ersten Urlaube beseelten meine Mutter und riefen tiefe Glücksgefühle in ihr hervor. Zurückgerechnet wurden mein Bruder und ich wohl während solch eines Urlaubs gezeugt. Von Anfang an waren meine Eltern allein unterwegs, und auch später, als mein Bruder und ich die Familie komplettierten, fuhren meine Eltern immer allein in den Urlaub. Wir Kinder blieben bei Angehörigen, oder bei Freunden. Dass Eltern ohne ihre Kinder in den Urlaub fuhren, stieß zwar bei einigen Leuten auf Unverständnis, doch für uns Kinder war es normal und wir fanden es sogar erfreulich.
Mutter und Vater waren weder unternehmungslustig noch entdeckerfreudig – nein, sie brauchten die Sicherheit zu wissen, wo es im Urlaubsort Brötchen und Benzin gab, wo man Postkarten, die man damals noch mit Freude und Stolz an die Lieben daheim verschickte, einwerfen konnte und wo ein Arzt oder eine Apotheke war. Daher fuhren sie Jahr für Jahr in dieselbe Gegend. Kurz nach der „Gebirgsüberquerung“ bei Kassel waren meine Eltern in ihrem Paradies angelangt: Die Rhön! Es musste wohl wirklich eins sein, zumindest legten ihre Schilderungen diese Vermutung nahe. Wenn sie zurückkamen, schwärmte Mutter wochenlang von der Natur, der Landschaft, dem Klima und der tollen Luft, um sich anschließend über Monate auf den nächsten Urlaub „dort unten“ zu freuen. Wenn meine Mutter vom Urlaub berichtete, wurde sie ein anderer Mensch, zumindest in ihren Ausführungen. Eine Wanderin, eine Naturkundlerin, eine Auf-Menschen-Zugeherin. Ihre Erzählungen waren detailreich, witzig, interessant und unterhaltsam. Mein Vater genoss ihre Urlaubsberichte. Mein Bruder und ich waren irritiert über ihre Verwandlung.
Als ich älter und mir die Bedeutung von Urlaub und Reisen bewusst wurde, war es für mich unvorstellbar, jedes Jahr und in jedem Urlaub die gleiche Gegend aufzusuchen. Nie war ich bis dahin an dem Urlaubsort meiner Eltern gewesen, dennoch maßte ich mir an, darüber urteilen zu können: Das Mittelgebirge? Die Rhön? Langweilig! Sterbenslangweilig! Meine Eltern waren zig Jahre lang in ihre „zweite Heimat“ gefahren. Auf der letzten Rückreise verunglückten sie tödlich bei einem Verkehrsunfall.
Ein Jahrzehnt später, ich hatte mich inzwischen von meinem Mann getrennt und wohnte mit den Kindern im Haus meiner Eltern, da verspürte ich das drängende Bedürfnis, auf den Spuren meiner Eltern zu wandeln, um sie dadurch posthum vielleicht ein wenig besser zu verstehen. Dazu musste ihr Paradies erkundet werden. Meine Kinder wollten nicht mit, sondern die Ferien lieber beim Vater verbringen. Früher hatte ich meine Urlaubsziele immer per Flugzeug erreicht: Griechenland, Spanien, Thailand, Tunesien, Kanada … um nur einige Länder zu nennen. Selbst mit Mann und Kindern hatte ich Fernreisen vorgezogen. Nun sollte es für mich also zum ersten Mal ein Deutschlandurlaub werden. Und vom ersten Tag in der Rhön war ich infiziert von einem Heimatvirus. Als wäre ich schon dort gewesen, und nicht nur einmal, sondern schon mein Leben lang. Kaum zu glauben, aber ich fühlte mich zu Hause! Wanderungen über sanfte Hügel und durch Hochmoore bewirkten kein atemberaubendes Gefühl wie damals die Niagarafälle in Amerika oder die blaue Grotte auf Malta – nein, sie bewirkten etwas anderes. Die Landschaft vermochte mich zu trösten, zu beruhigen, zu stärken, zu beleben und eine innere Balance herzustellen – dies hätte ich früher als esoterisches Geschwätz abgetan. Nie zuvor hatte ich mich so leicht und befreit gefühlt. Ich konnte nachdenken, ohne zu grübeln, hatte Ideen, war motiviert.
Wieder in Hamburg schwärmte auch ich ohne Unterlass viele Wochen, um mich anschließend etliche Monate auf den nächsten Urlaub zu freuen. Wenn mir jemand vorausgesagt hätte, ich würde meine arbeitsfreien Wochen nach 2010 freiwillig nur noch im Mittelgebirge verbringen, hätte ich denjenigen für verrückt erklärt. Aber es war tatsächlich so. Nun hielten meine Kinder mich für verrückt. Sie begleiteten mich kein einziges Mal, weder als Jugendliche noch als Erwachsene. Meine Tochter versucht beharrlich, meine Schwärmerei und meine Argumente für das Land der offenen Fernen zu entkräften, indem sie Spaziergänge vor Hamburgs Toren als gleichwertig anpreist. Nicht nur aus dem Kreis meiner Familie schlägt mir Skepsis entgegen, selbst meine Freundinnen unterstützen mein Vorhaben nur zurückhaltend, auch wenn ich inzwischen zu jeder Jahreszeit in meiner Liebesheimat gewesen bin und meinen Entschluss reich- und reiflich überlegt habe.
Bin ich „dort unten“, bin ein zufriedener Mensch. Zurück in Hamburg, übermannt mich ein heftiges Sehnen. Selma, meine beste Freundin, bezweifelt, dass eine emotionale Heimat größeren Einfluss auf eine Person haben kann als der regionale Ursprung. Vielleicht hat sie Recht. Die meisten Menschen unterscheiden wahrscheinlich gar nicht zwischen emotionaler und regionaler Heimat – beides ist für sie vereint. Aber ich habe eine Landschaft derart kennen und lieben gelernt, dass eine unausweichliche Sogwirkung von eben dieser ausgeht. Selma befürchtet, meine Sehnsucht nach der neuen Heimat könnte in einer Heimsuchung enden.
Seit einiger Zeit lebe ich allein im Haus meiner Eltern. Die Kinder sind in ganz Deutschland verteilt. Eine Beziehung habe ich schon lange nicht mehr und vielleicht geht es mir als singuläre Frau am besten. Bald werde ich fünfundfünfzig. Ein Neuanfang kann also noch gewagt werden. Als ich den Kindern meinen Entschluss mitteilte, fielen sie aus allen Wolken, waren entsetzt, wurden wütend.
„Mama, du spinnst. Was du machst, ist doch verrückt“, schleuderte mir meine Tochter entgegen.
„Ihr wohnt weit weg“, antwortete ich ganz ruhig, „kommt nur zwei, drei Mal im Jahr zu Besuch, die restliche Zeit bin ich allein. Ich werde nicht im Haus bleiben, damit ihr eine gedankliche Heimat habt. Mein Zuhause ist halt nicht mehr an der Waterkant. In den letzten Jahren war mir die Hansestadt eine Bleibe, zwar eine wunderbare, aber eben keine Heimat mehr und die brauche ich, um zur Ruhe zu kommen, vor allem dann, wenn die Welt um mich herum immer unruhiger wird. Ob ihr nun zu meinem Geburtstag oder zum Weihnachtsfest in den Norden oder in die Rhön kommt, ist doch im Grunde egal.“
Meine Kinder blieben ablehnend. Als Zugeständnis versicherte ich ihnen, unser Haus fürs Erste nicht zu verkaufen, sondern zu vermieten. Meine Arbeit musste ich aufgegeben, aber ich habe eine neue Anstellung in Aussicht. Natürlich, auch ich mache mir Gedanken, ob alles gut wird. Eins weiß ich aber jetzt schon, ich gebe mich der Liebe hin, der von Mutter vererbten Heimatliebe.
Sonja Dohrmann, geb. 1961, war Berufsschullehrerin und lebt in Hamburg. Sie schreibt auf Hoch- und Plattdeutsch und ist in der Redaktion des „Quickborn – Zeitschrift für plattdeutsche Sprache und Literatur“ tätig. Etliche Texte wurden in Anthologien veröffentlicht, dafür erhielt sie u.a. den „Gerd-Lüpke-Preis“ und den „Holzhäuser Heckethaler“. 2024 wurde von ihr und H. Thomsen „Schrievkraam“ herausgegeben.
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