Kerstin Fläschel für #kkl50 „Hingabe“
Der Liebhaber
Ich liebe ihn. Wenn er sich mir nähert, läuft mir ein warmer Schauer über die Haut. Seine wiederkehrende Gegenwart schenkt mir vergänglichen Frieden. Manchmal ziere ich mich etwas, aber man kann sich schließlich nicht jederzeit der schönsten Nebensache der Welt widmen. Doch wenn ich in seine Umarmung sinke, gebe ich mich ihm voll und ganz hin. Hoffe, dass unsere traute Zweisamkeit wenigstens hin und wieder länger andauert als nur ein paar mickrige Stunden.
Letzte Nacht ist es wieder passiert. Als er mich verließ, war ich wütend. Erschöpft. Hilflos. Ich hatte andere Pläne. Aber wie so oft spielten meine Bedürfnisse keine Rolle. Warum tue ich mir das nur immer wieder an? Ich könnte das Ganze auch einfach sein lassen, so wenig, wie ich davon habe. Mein Tag ist gelaufen, bevor er überhaupt anfängt.
Auf dem Weg zur Arbeit sitzt mir ein Typ gegenüber, der Kaugummi kaut, als ob sein Leben davon abhängt. Neben mir eine Schülerin. Im Halbsekundentakt ackert sie sich durch die Massen an Reels, die man als Jugendliche morgens um halb acht eben schon so gecheckt haben muss. Ich schlucke meinen Unmut herunter, atme tief ein, was sich gleich darauf als Fehler herausstellt. Der typische Mief der Berliner U-Bahn ist heute besonders ausgeprägt und treibt mir die Tränen in die Augen.
Die blutjunge Empfangsdame des Beratungsunternehmens, für das ich arbeite, nickt mir zu. Ihre Mundwinkel deuten ein Lächeln an, doch ihre Augen sind kalt. Ich lächle aufgesetzt zurück, alles hier ist irgendwie künstlich. Im Gang treffe ich mehrere Kollegen, alle in den immer gleichen Anzügen mit den stets gleichen Gesichtsausdrücken. Der junge Assistent meines Abteilungsleiters läuft mit gehetztem Blick und eingezogenem Kopf an mir vorbei, bevor er im Büro des Chefs verschwindet. Ich frage mich neuerdings immer häufiger, in welcher bizarren Inszenierung ich hier gelandet bin. Ein Ensemble verzweifelter Einzelkämpfer, die wider besseres Wissen Tag für Tag in eine Tretmühle zurückkehren, die ihnen die besten Jahre raubt und sie am Ende danklos ausspuckt.
Als ich nach neun Stunden und drei Meetings endlich Feierabend machen kann, will ich nur noch allein sein. Menschen nerven mich. Am liebsten möchte ich all ihre merkwürdigen Eigenheiten unter Strafe stellen lassen. Ich bin unleidlich, das ist mir bewusst. Gereiztheit ist mein neuer Grundzustand, Müdigkeit mein Lifestyle. Zu Hause angekommen schließe ich mit einem Seufzer die Tür hinter mir. Heute Abend soll es besser laufen als gestern. Ich koche frische Pasta, dazu grüner Salat mit Mozzarella und Kirschtomaten. Ein Glas Weißwein und ein heißes Bad sorgen für Entspannung. Der Fernseher bleibt aus, zu viel Ablenkung. Ich will mich ganz darauf konzentrieren können, wenn er zu mir kommt.
Die ersten Minuten sind geprägt von Unruhe. Ich spüre, dass es mir schwerfällt, ihn an mich heranzulassen. Ich will es unbedingt, gleichzeitig wehre ich mich instinktiv. Was ist, wenn es wieder so läuft wie letzte Nacht? Ich hadere, mit ihm, mit mir, mit uns. Ob ich es doch lieber gleich abbreche? Doch dann kommt er womöglich gar nicht mehr zurück. Mit jeder Sekunde wird mein Widerstand schwächer. Schließlich fällt er wie ein Raubtier über mich her. Ich habe ihm nichts entgegenzusetzen außer ein leises Seufzen. Es ist intensiv, doch letztlich nicht viel mehr als ein kurzes Stelldichein. Schon nach einer knappen Stunde ist alles vorbei.
Die Frau, in deren müde Augen ich am nächsten Morgen blicke, hat eindeutig schon bessere Zeiten gesehen. Sie war mal eine schicke Blondine, die viel Wert auf gutes Makeup und farblich abgestimmte Accessoires legte. Und jetzt? Graue Schatten liegen über ihren Wangenknochen. Ihre Haut ist fahl und trocken, die Haare hängen kraftlos herab. Der graue Strickpulli vervollständigt den Aschenputtel-Look. Ich wende mich ab und verlasse das Bad. Zeit zur Arbeit zu gehen.
Auf dem Weg zur Bahn beginnt es zu schneien. Ich ziehe meinen Schal enger und senke den Kopf. Den Weg kenne ich quasi im Schlaf. Welche Ironie. Nach der gemeinsamen Zeit, die wie immer viel zu schnell verging, fand ich letzte Nacht keine Ruhe mehr. Vor lauter Verzweiflung fing ich an zu putzen. Als die Küche blitzblank und die Nacht noch immer nicht vorbei war, nahm ich mir den Hängeboden im Flur vor. Schon seit Monaten wollte ich dort ausmisten. Drei Kisten ging ich durch, fing gerade mit der vierten an, als mein Wecker klingelte.
Jetzt muss ich mich auf die Monatsladung an Berichten auf meinem Schreibtisch konzentrieren, die bis Ende der Woche überarbeitet sein sollen. Ein kurzer Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass ich mich beeilen muss, da ich sonst meinen Zug verpasse. Ich beschleunige meinen Schritt. Gleich da drüben ist der Eingang zum Bahnhof. Die Fußgängerampel springt auf Rot, das schaffe ich noch. Im Laufschritt haste ich vom Bürgersteig auf die Fahrbahn. Verdammt, das wird knapp! Als ich aufsehe, höre ich das Kreischen von Bremsen, Schweinwerfer blenden mich. Mit einem Ruck reißt es mich von den Beinen. Die Welt dreht sich für einen Moment, dann wird es schwarz um mich.
Als ich wieder zu mir komme, tauchen gleich mehrere Gesichter vor mir auf. Geht es Ihnen gut? Was war das denn? Sie sollten in Zukunft besser aufpassen! Ich blinzle und versuche, den auf mich einprasselnden Fragen und Bemerkungen zu folgen. Schließlich werde ich von zwei starken Armen auf die Beine gestellt. Der junge Mann, zu dem sie gehören, sieht mich aufmunternd an.
»Hier, Ihre Tasche.« Er reicht mir meine Habseligkeiten. »Der Kerl, dem Sie vors Auto gelaufen sind, ist natürlich direkt weitergefahren. Typisch.« Er deutet mit dem Daumen in die Richtung, in der der Autofahrer offenbar verschwunden ist. »Ich muss los. Univorlesung.« Er hebt entschuldigend die Hände, dann trabt er davon.
Ich drücke dem Taxifahrer zwei Zwanziger in die Hand und steige vorsichtig aus. Er tippt sich zum Abschied an die Schiebermütze, dann rollt der beigefarbene Mercedes um die Ecke. Nachdem ich zu spät zum morgendlichen Meeting erschienen war, sah mein Chef mich zehn Sekunden lang eindringlich an, dann schickte er mich nach Hause. Zwangsurlaub. Mit unsicheren Schritten gehe ich zur Haustür. Meine Knie haben immer noch die Konsistenz von Pudding, meine Finger zittern. Ich lege mich unter meine Kuscheldecke und versuche, zur Ruhe zu kommen. Immer wieder sehe ich das Gesicht des jungen Mannes vor mir. Ohne ihn würde ich jetzt wohl im Krankenhaus liegen. Ich glaube, ich habe mich nicht einmal bei ihm bedankt. Wie konnte es soweit kommen? Unzufrieden rutsche ich auf der Couch herum. Diese missratenen Nächte sind an allem schuld! Wenn wir nur endlich wieder ruhige, erholsame Stunden miteinander verbringen könnten, er und ich. Dann wäre alles viel einfacher. So oft habe ich ihn angefleht, er möge bleiben. Doch er bleibt ein unsteter Besucher, der kommt und geht, wie es ihm beliebt. Auch jetzt, wo ich ihn so dringend bräuchte, kann ich nicht auf ihn zählen.
Die Stunden reihen sich aneinander, eine zäher als die andere. Ich habe gegessen, getrunken, geduscht, gelesen, gewartet. Inzwischen ist es dunkel. Ein letzter Gang zur Toilette. Mein Blick fällt auf die Kisten, mit denen ich mir die vergangene Nacht um die Ohren geschlagen habe. Ich hebe den Deckel und einige kleinere Schachteln auf, will alles verstauen, doch dann halte ich inne. Meine Malutensilien, die hatte ich völlig vergessen! Pastellkreide, Ölfarben, Aquarellstifte. Relikte aus einer Zeit, in der ich noch dem Traum von einer Karriere als Künstlerin nachhing. Ich erinnere mich plötzlich, welche Euphorie ich empfand, wenn ich ein Werk vollendet hatte. Wie erschöpft und dennoch glücklich ich war. Davon kann ich heute nur noch träumen. Obwohl, nicht einmal das.
Kurzentschlossen nehme ich die Kiste mit ins Wohnzimmer, breite den Inhalt auf dem Fußboden aus. Als letztes finde ich ein nagelneues Skizzenbuch. Ganz automatisch greife ich zur Zeichenkohle. Die ersten Bewegungen sind ungewohnt, doch schon nach wenigen Minuten ist es wieder genau wie früher. Ich denke nicht, ich zeichne. Auf dem Papier entsteht Strich um Strich das Gesicht meines Retters vom Vormittag. Aufregung packt mich. Ich kann es noch! Eine neue Seite, ein neues Bild. Dann noch eines. Ich gebe mich der alten Leidenschaft hin.
Auf einmal spüre ich ihn im Nacken. Er hat sich angeschlichen, will mich bei sich haben. Ich fühle mich beinahe verpflichtet nachzugeben. Doch gerade jetzt, in diesem Augenblick, habe ich etwas anderes zu tun. Etwas, das nur mir gehört, das mich erfüllt. Also tue ich, was ich mich seit Jahren nicht getraut habe. Ich weise ihn zurück. Es fühlt sich so gut an, einfach richtig. Ich fasse einen Entschluss. Ab jetzt entscheide ich, wann es soweit ist, und zu welchen Bedingungen. Ich werde nicht mehr flehend warten. Das Leben ist zu kurz für Abhängigkeit und Tristesse. Ab jetzt werde ich mich wieder um mich selbst kümmern. Wenn ich dann soweit bin, werde ich ihn einladen und meinen geliebten Schlaf umso mehr genießen.
Kerstin Fläschel
Die Berliner Fremdsprachenkorrespondentin schreibt seit ihrer Kindheit Geschichten über Menschen, Magie und Mystisches. Gemeinsam mit ihrer Familie entwickelt und designt sie in ihrer Wahlheimat Ostfriesland außerdem auch Brettspiele.
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