Von nichts kommt nichts

Magdalena Steiner für #kkl50 „Hingabe“




Von nichts kommt nichts

Ein spanisches Sprichwort besagt, dass wenn man viel schläft, nichts lernt «El que mucho duerme, poco aprende». Rosalinde stimmte dem voll und ganz zu. Auch «a más dormir, menos vivir», also je mehr man schläft, desto weniger lebt man, könnte sie sich auf ihre Stirn tätowieren, denn nach diesen beiden Sprichwörtern lebte sie.

Schlafen war für Rosalinde zweitrangig, denn das konnte sie ja tun, wenn sie tot war. Was sie nicht realisierte, war, dass ihr Schlafmangel sie immer unglücklicher machte und sie zu einem frühzeitigen Tod führen könnte.

Der Tag hatte für sie nicht genug Stunden. Sie konnte nicht Uni, Hausübungen, Lernen, Arbeit, Haushalt UND Freizeit mit Spaß in 24 Stunden unterbringen. Das Wort entspannen wurde ihr von Freunden und Familie schon oft an den Kopf geworfen, aber sie versuchte es gekonnt zu ignorieren. Dann müsste Rosalinde ja Uni, Hausübungen, Lernen, Arbeit, Haushalt, Freizeit UND Entspannung in einen Tag packen und das ginge auf keinen Fall. Außerdem war Entspannen für sie vergeudete Zeit, genauso wie schlafen.

Nachdem sie alles gemacht hatte, das sie machen musste, wie Hausübungen und die Wohnugn sauber halten, war es fast Mitternacht. Jetzt schlafen zu gehen wäre wahnsinnig unbefriedigend. Um den Tag somit zu verlängern, gab es nur eine logische Schlussfolgerung. Anstelle von Musik zu hören oder nach einer kurzen Folge einer Serie schlafen zu gehen, musste sie arbeiten, nämlich an ihrem Traum. Sie wollte Künstlerin werden und hatte somit nur in der Nacht Zeit, Piano zu spielen.

Durch den wenigen Schlaf brannten Rosalindes Augen die ganze Zeit. Sie schob diese schlechte Laune und Motivationslosigkeit auf alles, nur nicht auf den Schlafmangel. Es war ungesundes Essen, zu wenig Wasser, wenig Bewegung, einfach alles außer dem Offensichtlichen.

Sie entschuldigte diesen ungesunden Lebensstil mit ihrer Hingabe zur Musik. Wenn sie einmal erfolgreich war, dann würde sich das alles ausgezahlt haben. Dass Erfolg süchtig machen konnte und sich immer neue Türen öffneten, um mehr und Besseres zu erreichen, bedachte sie nicht. Bis dahin war ja noch Zeit.

Rosalinde zwang sich jeden Abend, lange wach zu bleiben, um mehr vom Tag zu haben. Die Zeit verging zu schnell, sie war doch letztes Jahr noch 17 Jahre alt gewesen, saß in der Schule und hat sich vor der Matura gefürchtet. Dieses Jahr war sie schon 22 und fürchtete sich vor der Bachelorarbeit. 17 und 22 waren so nahe beisammen und doch so fern. Für Rosalinde klang es, als würden diese Zahlen nur zwei Jahre trennen, doch in Wirklichkeit waren es fünf. Fünf Jahre.

Jede Minute zählte, jede Minute war kostbar und durfte somit nicht mit Schlaf oder anderen belanglosen Tätigkeiten verschwendet werden. Mit jedem Tag ging es ihr schlechter und deswegen blieb sie noch länger wach, denn ihr unglückliches Dasein musste an ihren unerfüllten Träumen liegen.

Wenn es allerdings doch einmal, aber selten, passieren sollte, dass sie einen Tag lang nichts machte (meist weil sie zu erschöpft war), dann galt dieser als absolut unbrauchbar und verschwendet. Denn auch wenn sie nichts machte, war sie gestresst, denn es gab ja so vieles zu tun. Ruhe kannte sie nicht. Ihr Herz kannte keine Pause und war immer auf 180.

Träume wurden allerdings nicht von alleine wahr, das musste man auch dazusagen. Herumliegen und nichts tun, ja sogar schlafen, brachte einen nicht weit!

Rosalinde bekam vor einem Monat ihr Klavier geliefert, an das sie nur Kopfhörer anstecken musste, um den Klang zu hören. Die Nachbarn haben sich schon über die Melodien der Nacht aufgeregt und somit wurde es Rosalinde verboten, nachts in die Tasten zu hauen. Bis jetzt, denn nun konnte sie spielen, ohne die umliegenden Nachbarn des Wohnkomplexes zu stören. Somit sah ihr Bett Rosalinde nur sehr selten.

Oft nahm sie sich vor, tatsächlich schlafen zu gehen, aber nur weil ihre Freunde und Familie sie dazu nötigten. Doch wenn sie mit ihrem Vorhaben fertig war, begannen meist die ersten Sonnenstrahlen ihre Wohnzimmerwände orange zu färben. Dann war es schon egal, denn ob sie jetzt von 6 bis 8 Uhr, also bis sie zur Uni musste, schlafen würde oder überhaupt nicht, schlief sie lieber nicht. Da konnte sie wenigstens die zwei Stunden noch ausnutzen und etwas produktives machen.

Klavierspielen. Üben. Komponieren.

Je länger Rosalinde wach blieb, desto unkonzentrierter wurde sie. Je öfter sich Rosalinde dann verspielte, desto härter schlug sie mit den Fingern auf die Tasten. Je fester sie drückte, desto größer wurden die Schmerzen. Unterbewusst biss sie sich auf die Unterlippe und begann dadurch zu bluten – nicht nur im Mund, sondern auch an den Fingern durch die aggressiven Tastenschläge.

Wie in einer Trance, verbannt ewig weiter zu spielen, hörte Rosalinde nicht auf. Immer und immer wieder schlug sie abwechselnd auf die weißen und schwarzen Tasten, sodass sich das klebrige Rot auf dem ganzen Klavier verteilte und langsam in die Fugen ronn.

Jeder falsche Ton löste in Rosalinde eine Zuckung aus, mit der sich ihre Schneidezähne immer weiter in ihr Fleisch bissen. Sie wurde immer schneller, immer hektischer, sodass sich die schiefen Töne zu häufen begannen. Mit jedem unharmonischen Unterbrecher sägten sich ihre Zähne weiter in die Innenseite ihrer Unterlippe, bis…oh Gott.

Rosalinde schreckte zurück. Alles war leise, nur die Vögel der Morgenstund sangen ihre Lieder. Sie öffnete ihren Mund und neben Blut rollte auch ein Stück ihrer Lippeninnenseite heraus.

Wie aus der Hypnose der Hingabe gelöst, fielen ihr plötzlich auch ihre roten Fingerspitzen auf. Der Schreck warf sie fast rückwärts vom Stuhl. Was ist aus mir geworden? fragte sie sich, als sie ihre übermüdete Reflexion im Wandspiegel sah.

Lange saß sie da und starrte sich selbst an. Die langsam einsetzende Realisation, dass sie sich bis an das Maximum getrieben hatte, um professionelle Klavierspielerin zu werden und was das aus ihr gemacht hatte, stach ihr wie ein Dolch ins Herz. Sie erkannte sich nicht wieder. Müde Augen, die sie nicht kannte, schauten ihr in die Seele.

Vielleicht war es nicht Hingabe, sondern Besessenheit, die sie antrieb.

Ihr Kopf wurde schwer und es wurde immer anstrengender, mit der Person im Spiegel Augenkontakt zu halten. Vorhin konnte sie sich noch auffangen, aber dieses Mal hatte sie keine Kraft mehr und flog rückwärts vom Klavierstuhl. Bis zum Aufprall schaffte sie es nicht. Ihre Augen waren schon längst geschlossen. Endlich konnte sie schlafen.




Magdalena Steiner wurde 2002 im Salzkammergut geboren und wuchs zwischen den Bergen und Seen Oberösterreichs auf. Zum Studieren schlug es sie 2020 nach Wien, wo sie Transkulturelle Kommunikation in Englisch und Spanisch zu studieren begann. Die Stadt der Dichter und Denker färbte auf sie ab und sie begann ihre eigenen Geschichten zu schreiben.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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