Was Frieda denkt

Lisa Aipperspach für #kkl50 „Hingabe“




Was Frieda denkt

„Du hältst dich oft an dieser Adresse auf. Soll ich sie zu deinen Favoriten hinzufügen?“

Die Schrift erscheint in einem Kasten, der sich über den Stadtplan schiebt. Mika drückt eine Handytaste, der Bildschirm fällt schwarz in sich zusammen. Mika sieht zu den Fenstern auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinauf. Im dritten Stock brennt Licht hinter einer halb vorgezogenen Gardine. Mika lehnt sich zurück und streckt die Beine aus. Die Parkbank, auf der er sitzt, ist so weit von der Straße zurückgesetzt, dass er in der Dämmerung von Fußgängern und vorbeifahrenden Autos nicht mehr wahrgenommen wird. Er wartet. Es ist kalt geworden. Morgen wird er eine wärmere Jacke anziehen und die gefütterten Stiefel. Falls er herkommt.

„Die Wahrscheinlichkeit, dass du morgen herkommst, liegt bei über 50 Prozent. Du bist im Durchschnitt 3,7 Tage pro Woche hier.“

Das Display leuchtet wieder.

Keiner weiß, was morgen passiert, denkt Mika. Ich weiß schon nicht, was heute ist.

„Heute ist Montag, der 20. Januar 2025. In Nordamerika hat ein verurteilter Straftäter seine zweite Amtszeit als Präsident angetreten, das Wahlverhalten wurde im Vorfeld massiv durch den Einfluss von Tech-Milliardären auf Social-Media-Plattformen bestimmt. Russland führt noch immer Krieg gegen die Ukraine, mit Waffengewalt und digital. Drei Anwälte eines russischen Oppositionellen sind zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Ein iranischer Rapper wurde wegen Blasphemie schuldig gesprochen, ihm droht die Todesstrafe. Die Börsenkurse steigen seit heute Nachmittag 15 Uhr, die durchschnittliche Temperatur in Deutschland steigt seit über 50 Jahren. Aktuell ist es neblig-bedeckt bei 2 Grad. Was willst du noch wissen?“

Mika dreht das Handy um und legt es neben sich auf die Bank. Oben am Fenster erscheint jetzt ein halber Frauenkörper, rundlich, in einen Wollpulli gehüllt, darüber ein weiches Gesicht mit rosigen Wangen, langes, gelocktes Haar, das sich über einer Denkerstirn teilt.

„Was macht sie?“, fragt Mika leise. „Worüber denkt sie nach, wenn sie so am Fenster steht? Weiß sie, was sie morgen tut?“

„Du fragst mich oft nach Frieda.“ Die Frauenstimme klingt glatt und unverwüstlich einfältig. „Soll ich sie als Favoritin speichern?“

„Hör auf mit dem Scheiß!“

„Möchtest du lieber einen männlichen Ansprechpartner?“

Die Stimme ist in die Tiefe gerutscht und klingt jetzt so sanft und dumm wie die seines Klassenlehrers, wenn der über Selbstvertrauen und positive Denkmuster spricht.

„Ich möchte wissen, ob sie an mich denkt.“

„Die Frage kann ich dir nicht beantworten. Frieda spricht nicht mit mir. Ihre Bildschirmzeit ist kürzer als deine.“

Frieda verschwindet wieder hinter dem Vorhang. Man wird nicht schlau aus ihr. Manchmal sitzt sie im Unterricht eine Stunde lang still an ihrem Platz und schaut in sich hinein. Dann meldet sie sich unvermittelt und sagt etwas, worauf noch niemand gekommen ist. Nicht einmal der Lehrer. Sie spricht in leisem, manchmal bestimmtem, manchmal fragendem Ton, dabei hebt sie ihre weichen, weißen Hände und formt Dinge aus einem unsichtbaren Material. Danach ist es still im Raum. Der Lehrer lächelt, einige Mitschüler notieren etwas in ihren Unterlagen.

Mika schreibt erst später auf, was Frieda gesagt hat.

Kann man etwas vermissen, das man nie hatte? Wenn man die Möglichkeit hätte, andere Menschen wie Computerprogramme zu steuern, wäre man dann allein auf der Welt? Wenn der Säbelzahntiger durch den evolutionären Sperrklinkeneffekt der Säbelzähne ausgestorben ist, weil er alle seine Beutetiere vernichtet hat, wird der Mensch dann durch den Sperrklinkenfaktor „Geist“ aussterben?

Über sowas denkt Frieda nach, aber Mika hört sie nur im Unterricht darüber sprechen. In den Pausen geht sie mit einer Freundin spazieren oder liest, und auch wenn sie ihn anlächelt, manchmal sogar rot wird dabei, legt sie es nie auf ein Gespräch mit ihm an.

Es kommt vor, dass Zoe ihn in der Mittagspause überrascht, wie er Friedas Sätze aufschreibt. Klingt creepy, sagt Zoe, stehst du jetzt auf diesen Mindfuck?

Zoe ist groß und drahtig und läuft sogar im Winter bauchfrei herum, so dass man den funkelnden Stein in ihrem Nabel bewundern kann. Sie ist schlagfertig, aber sie schlägt sich nicht gerne mit Fragen der Weltpolitik herum. Du änderst doch eh nichts, sagt sie, genieß dein Leben. Dann berät sie ihn zum nächsten Insta-Posting oder Partyoutfit. Sie liegt immer richtig. Ihr seid ein süßes Paar, sagt Mikas Mutter. Halt die dir warm, sagt Mikas Vater, mit der kannst du dich überall blicken lassen. Mika hält sie sich warm, und wenn er nicht gerade Notizen macht, während sie neben ihm sitzt, ist sie friedfertig, manchmal sogar verständnisvoll.

„Du sitzt schon 78 Minuten hier. Deine durchschnittliche tägliche Verweildauer beträgt 57 Minuten. Soll ich dir eine Verbindung nach Hause heraussuchen?“

Mika dreht den Handybildschirm wieder nach oben, aber der sieht schwarz und tot aus.

„Ich kann nicht nach Hause“, sagt er. „Man braucht einen Plan, ein Ziel, um irgendwo hinzugehen.“

„Du musst deine Matheaufgaben bis morgen früh acht Uhr bearbeitet haben. Außerdem wartet ein anregendes Full-Body-Workout auf dich.“

„Wozu Aufgaben machen, wenn ich nicht mal weiß, was ich studieren soll? Ich finde keinen Platz, an dem ich sein will.“

„Soll ich dir die Adresse eines Arztes heraussuchen? Die nächstgelegene psychiatrische Praxis schließt in 46 Minuten.“

„Ich brauch keine Medikamente. Ich muss wissen, was Frieda denkt.“

Neulich haben sie in Philosophie einen Text über Aggressionstheorien gelesen. Aggressionen sind im Menschen genetisch veranlagt, sagt der Text, evolutionär weitergegeben. Ebenso wie die Aggressionshemmungen. Aber in Zeiten des technischen Fortschritts, der Hochleistungswaffen, der Shitstorms reichen die angeborenen Hemmungen nicht mehr aus, um die Gattung Mensch vor der Selbstauslöschung zu bewahren. Frieda war fasziniert vom Bild des verlorenen Gleichgewichts, auf die seltsam verhaltene Art, die Mika nur von ihr kennt. Ihre Augen glänzen dann, und dort, wo ihre vollen, im Winter etwas rissigen Lippen in die Wange auslaufen, bilden sich Grübchen. Mika wäre gerne mit dem Finger darübergefahren. Oder mit der Zungenspitze.

Laut sagt er: „Hast du keine Angst vor der Auslöschung? Irgendwann vertreibt dich ein besseres Programm vom Markt.“

„Ich bin nicht darauf programmiert, mich vor der Zukunft zu fürchten“, sagt die Stimme, die nun wieder höher klingt, aber sanfter und modulierter, als habe ihr jemand Leben eingehaucht. „Ich kann keine Angst haben.“

„Frieda hat auch keine. Sie spricht über die Zukunft, als würde sie alles klar vor sich sehen. Nichts davon scheint sie zu erschrecken. Das Leben muss nicht schön sein, sagt sie, nur interessant. Bist du eine Freundin von ihr?“

„Ich kann keine Freunde haben. Ich bin das künstliche Wesen, das dich dabei unterstützt, vorausschauend und angemessen mit deiner Umgebung zu interagieren.“

Oben hinter der Glasscheibe erscheint wieder Friedas Gestalt. Sie betrachtet etwas, das in ihren Händen liegt, einen Brief vielleicht, den ihr ein heimlicher Verehrer geschrieben hat. Dann hebt sie den Kopf und schaut in den Wipfel des Baumes, unter dem Mika sitzt. Er kann seine rissige Borke ertasten, wenn er die Hand zur Seite ausstreckt. Friedas Mundwinkel erkennt Mika nicht, aber er weiß, dass sie lächelt. Unter seinen Fingerspitzen spürt er jetzt ihre Lippen und das Grübchen.

„Nein“, sagt er. „Du bist nur eine von Friedas Ideen. Stör mich nicht, wenn ich bei ihr bin.“

Er steht auf und winkt zu der Gestalt im Fenster hinauf. Dann wirft er sein Handy in den Rucksack und überquert die Straße.




Lisa Aipperspach (Jg. 1977) wuchs mit fünf Geschwistern in einem Dorf in Schwaben auf. Nach dem Abitur in Hamburg wurde sie zunächst Buchhändlerin, dann studierte sie Germanistik und Philosophie in Tübingen und Genf.

Heute arbeitet sie als Lehrerin an einem Beruflichen Gymnasium in Hamburg. In ihrer Freizeit schreibt sie und trainiert Kickboxen.

Im Januar 2024 wurde ihre Kurzgeschichte „Eiffelturm“ für die Longlist des 29. Deutschen Kurzgeschichtenwettbewerbs ausgewählt (veröffentlich in der „StoryApp“).






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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