Syelle Beutnagel für #kkl50 „Hingabe“
Geschenkt
“Der erste Strich ist Fisch”, so begann das Buch damals. Der erste Strich ist immer noch schwer. Aber einen Fisch in chinesischer Tusche-Manier zu zeichnen, ist leicht. Ein guter Einstieg.
Wenn die Unruhe, oder die Angst, mir den Bleistift aus der Hand legen will, schließe ich ganz kurz die Augen und fühle. Und dann lasse ich meiner Hand freien Lauf: irgendein Strich auf das Papier. Und dann noch einer und noch einer. Eine erste Struktur entsteht und nach einigen Minuten, weiß ich schon das Thema. Wollte meine Hand zuerst gar nicht den Stift bewegen, bin ich jetzt ganz bei der Sache. Strich um Strich entsteht eine Zeichnung vor mir auf dem Tisch.
Die Schattierungen kommen dazu. Mit meinen verschiedenen Bleistiftstärken kommt Farbe in das Bild. Schraffuren, verschiedene Haltungen des Stiftes, hier mehr Druck, hier weniger. Meine Hand tanzt mit dem Stift über das Papier. Ich bin ganz dabei, vertieft, merke nichts um mich herum, denn die Zeichnung fordert mein ganzes Sein, mein ganzes Fühlen, mich, hier und jetzt.
Irgendwann ist die Zeichnung fertig. Manchmal geht es schnell, manchmal ist nur Zeit für eine Skizze, die dann später fertiggestellt wird und manchmal schwelgt man im Bild.
Ich lege die Bleistifte weg, räume auf dem Tisch auf. Hebe meinen Blick, sehe mich um. Sekundenlang erscheint es mir, als wäre ich in einer fremden Welt aufgetaucht, bevor ich meine Umwelt wieder “scharf sehe”. – Der Vorteil einer Brille. Man kann sie absetzen, und alles in ein Meter Entfernung und weiter wird unscharf.
In Wirklichkeit war ich während des Zeichnens ganz im Moment, ganz bei mir. Ich habe mich durch das Zeichnen einige Minuten ganz meiner inneren Welt hingegeben.
Wie schwer es mir immer wieder fällt, einfach anzufangen, ist beispielhaft, wie schwer es heutzutage ist, einen Moment bei sich zu sein, sich sich selbst hinzugeben. Aber wie gut das tut!
Sicher, in unserer rasanten Zeit, der Ablenkung, in der wir leben, wird uns das schwer gemacht. Aber Dankbarkeit erlebe ich immer wieder, wenn diese Minuten der inneren Ruhe erlebt werden. Zeichnen kann man sehr gut in Gemeinschaft machen. Die Gruppe wird dann schnell automatisch immer leiser. Und wieviel Kreativität in den Menschen steckt, lässt mich immer wieder staunen. Aber ob diese Kreativität immer erwünscht ist? Wer weiß. Zur Erklärung: Ich habe etwa ein Jahr lang eine Zeichengruppe angeleitet.
Aber diese Hingabe zu sich kann noch schöner sein. An einem herrlichen Sommertag schnappte ich mir halbfertige Zeichnungen und Badesachen und besuchte ein Freibad. Auf meinem Badetuch ausgerekelt vollendete ich die Zeichnungen. Ich war bis zuletzt ganz bei der Sache, vergaß die spielenden Kinder und das Platschen des Schwimmbadwassers um mich herum, spürte die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Dann war ich fertig. Ich räumte meine Zeichenutensilien weg und streckte mich auf meinem Badetuch wohlig aus. Über mir schien die Sonne, um mich herum war Lebensfreude, ich war völlig entspannt und zufrieden. Ich gab mich ganz diesem Gefühl hin. Hingabe an das Leben.
Syelle Beutnagel wurde 1972 in Braunschweig geboren. Nach dem Abitur studierte sie an der TU Braunschweig Geisteswissenschaften. Aus dem Theaterjob, mit dem sie ihr Studium finanzierte, entwickelte sich ein Beruf, den sie nach dem Studium weiter ausübte. Daneben betrieb sie ein kleines Versandantiquariat.
Nach ihrer Scheidung 2012 zog sie in den Südharz und lebt heute als freie Texterin und Autorin.
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