Andrea Tillmanns für #kkl50 „Hingabe“
Der Weg
Sie ging den Weg, ohne das Ziel zu kennen. Vor vielen Monden hatte sie den Ruf gehört, nur in einem Traum, dem sie zunächst keine Beachtung schenkte. Auch als der Traum wiederkehrte, erwachte sie am nächsten Morgen mit dem nur leichten und bald wieder verflogenen Gefühl, etwas Wichtiges tun zu müssen. Dann träumte sie den Traum wieder, und dann noch einmal, bis sie sich zu handeln entschloss.
So ging sie den Weg, ohne zu wissen, wer sie gerufen hatte. Unbeirrt folgte sie einer Stimme, die sie nicht kannte und, genaugenommen, nicht einmal wirklich vernommen hatte. Obwohl ihre Eltern sie mit Bitten und Drohungen zum Bleiben drängten, hatte sie doch das starke, wenn auch unbestimmte Gefühl, dem Ruf folgen zu müssen.
Sie ging den Weg.
Sie ging des Tages und ruhte nachts, und noch immer, in ihren Träumen, hörte sie die Stimme, die sie zum Weitergehen aufforderte. Nur selten dachte sie an das Ziel.
Es wurde Sommer, und sie blieb eine Zeitlang in einem kleinen Dorf und half den Bauern auf ihren Feldern. Der Herbst kam, und als es keine Arbeit mehr für sie zu tun gab, ging sie weiter, geleitet von der Stimme in ihren Träumen. Auch im Winter wurde sie aufgehalten, als Dorfbewohner sie um Hilfe baten. So blieb sie wieder ein paar Wochen lang, bis alles getan war. Und sie ging weiter, bis sie in einem Dorf bei der Aussaat helfen konnte.
Sie merkte kaum, dass sie härter und länger arbeitete als alle anderen. Der Traum kam immer noch regelmäßig zu ihr, und mit der Zeit fühlte sie eine leise Ungeduld in sich keimen. So arbeitete sie noch schneller, um sich früher wieder auf den Weg machen zu können zu ihrem Ziel. Zwar wusste sie noch immer nicht, was sie dort erwarten würde, spürte aber von Tag zu Tag, von Monat zu Monat stärker, dass es sich lohnen würde, dort eines Tages anzukommen.
So ging sie weiter.
Immer weiter.
Sie wurde älter, aber ihre Kraft nahm kaum ab, und noch immer blieb sie stets dort, wo ihre Hilfe gebraucht wurde. Und noch immer ging sie den Weg, auf den die Stimme aus ihren Träumen sie führte. Und noch immer hoffte sie, das Ziel trotz ihres fortgeschrittenen Alters eines Tages zu erreichen.
Eines Tages, als sie schon sehr alt war, erreichte sie mit letzter Kraft ein kleines Dorf; und zum ersten Mal auf ihrer Reise bat man sie nicht um Hilfe, sondern lud sie zu einer stärkenden Suppe ein und bot ihr ein warmes Bett an. In dieser Nacht hörte sie die Stimme nicht. In dieser Nacht träumte sie von Gevatter Tod.
Sie erwachte mit einem Schrei. Das Ziel musste so nah sein, sie war schließlich ihr ganzes Leben lang den Weg gegangen, den sie zu gehen hatte. Und nun sollte alles umsonst gewesen sein? Leise Tränen rollten über ihre Wangen, als sie sich ankleidete und das gastliche Haus verließ. Sie schaffte nur wenige Schritte bis zu einem Brunnen, ehe sie die Kraft verließ. So saß sie und wartete. Vielleicht auf die Stimme, vielleicht auf den Tod, vielleicht auch auf einen, der ihrer Hilfe bedurfte – sie hätte es nicht sagen können. Irgendwann sah sie auf. Dieses Dorf kam ihr jetzt, im Licht der aufgehenden Sonne, seltsam bekannt vor, aber es dauerte eine ganze Weile, bis sie begriff, dass es ihr Heimatdorf war, das sie vor so vielen Jahren verlassen hatte, um ihr Glück zu finden; der einzige Ort, an dem man ihre Hilfe nicht benötigte. Die alte Frau schrie stumm die Stimme an, der sie stets gefolgt war, und verfluchte sie, bevor sie vor Erschöpfung einschlief.
Und wieder hörte sie die Stimme, ein letztes Mal.
Und einige sahen, wie ihre zornigen Züge sich glätteten, als die Stimme von ihrem Ziel sprach, und schließlich sah man die Frau lächeln, als sie verstand. Und manchmal spricht man noch heute in vielen Dörfern von der Frau, die kam, um zu helfen, und deren Züge so friedlich waren, bevor sie nicht mehr erwachte.
Andrea Tillmanns lebt in Ostwestfalen-Lippe, arbeitet hauptberuflich als Hochschullehrerin und schreibt seit vielen Jahren Gedichte, Kurzgeschichten und Romane in verschiedensten Genres. Weitere Informationen zu Veröffentlichungen und Lesungen sind auf http://www.andreatillmanns.de zu finden. Aktuell: „Aachener Ansichten“, ein Foto-Gedichtband.
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