OBSESSION

Sonja Henkel für #kkl50 „Hingabe“




OBSESSION

Ich stehe in meinem Atelier und betrachte mein neuestes Werk, tonverschmiert, todmüde, aber unbeschreiblich glücklich. „Versunken“ ist wirklich wunderbar gelungen, genauso wie ich es mir vorgestellt hatte. Diese Gestalt fließt, von den herabgesunkenen Schultern über den gebeugten Nacken bis hin zum Gesicht, das in schierer Auflösung begriffen ist und keinen greifbaren Zug mehr aufweist. Auch die entrückten, willenlosen Augen und der träumende Mund sind Teil dieses Flusses. Ja, so muss es sein! Ich habe lange nach einer Vorlage gesucht und endlich – nach Wochen – in einer Kirche eine betende Nonne entdeckt. Das war sie, die Verkörperung der Versunkenheit, nach der ich solange gesucht hatte. Sie nahm mich nicht einmal wahr, als ich mit meinem Notizblock in ihr Gesichtsfeld trat. Ihre Augen waren in unendliche Fernen gerichtet, ihr Geist in Sphären entrückt, wo nichts mehr ihn erreichen konnte. Ich war überglücklich, als ich sie sah. Endlich hatte ich sie gefunden! Danach hatte ich wie besessen daran gearbeitet, Tag und Nacht, geleitet von meinen Skizzen und meiner Phantasie. Und nun stand sie hier, meine neueste Kreation, die ich voller Stolz bei meiner nächsten Ausstellung präsentieren würde: „Versunken“ – das neueste Werk von Samantha Durant.

Ich zog meinen Kittel aus, wusch mir Hände und Gesicht, steckte mir eine Zigarette an und holte mir eine Tasse Kaffee aus der Küche. Ich war müde, unbeschreiblich müde, leer und glücklich. Schwer ließ ich mich auf einen Stuhl fallen. Die durchwachten Nächte und das besessene Arbeiten hatten ihren Tribut gefordert. Ich presste mich an die Rückenlehne, zog an meiner Zigarette und betrachtete versunken das Werk „Versunken“. Das zerlaufende Gesicht, das Auflösen, das Abwenden von dieser Welt – es faszinierte mich. Und die Augen, die entrückten Augen. Was sie wohl sahen?

„Hör auf zu denken, du bist todmüde“, sagte mein rationaler Verstand. Aber ich spürte, wie meine Phantasie langsam, aber sicher ihre Schwingen ausbreitete und sich zum nächsten Flug in andere Welten aufmachte. Leere, willenlose Augen, Augen, die Dinge sehen, die sonst keiner sehen kann, die Seherin mit den leeren Augen – sie ist blind. Die Seherin mit den blinden Augen – Augen, die schöner sind als sehende, da sie in sich selbst blicken und weit in die Gefilde des Geistes wandern können. Das war’s – genau das: „Die blinde Seherin“, eine Büste nur, ein Mädchen mit den schönsten blinden Augen der Welt! Ich sah sie bereits vor mir, in all ihrer Schönheit: ein gerader Nacken mit edlen, stolzen Linien, langes Haar, zu einem dicken Zopf gebunden, mit Perlenschnüren durchflochten, ein zartes Gesicht, eine hohe, eigenwillige Stirn, eine schmale, gerade Nase, ein leicht vorgerecktes Kinn, ein Mund mit vollen, sinnlichen Lippen und einem wissenden Lächeln. Ich werde dich finden, blinde Seherin, und durch meine Hände sollst du zum Leben erwachen. Und das Fieber der Besessenheit, ohne das kein Künstler leben kann, bahnte sich erneut seinen Weg durch die Müdigkeit des Körpers und drängte nach Erfüllung. Und diese Erfüllung würde keinen Aufschub dulden. Ich kannte das. Es war mir ein vertrauter Freund und ich wusste genau, was es bedeutete. Zu viel Rauchen, literweise schwarzer Kaffee, durchwanderte Nächte, verworfene Versuche und die zermürbende Suche nach dem richtigen Motiv – das alles war ich. Unzählige Male bin ich schon durch die Straßen gelaufen, auf der Suche nach einer bestimmten Haltung eines Kopfes, einer Anmut der Schultern, der Form einer Nase, dem Schwung einer Hüfte oder der Art eines Fußes. Es war zermürbend, ermüdend, oft nahe am Aufgeben, aber ich habe es gefunden.

Und jetzt war es wieder soweit: Ich würde sie finden, meine blinde Seherin, und sie erschaffen für die Ewigkeit mit Augen, die die Welt noch nie gesehen hat. Doch erst forderte der Körper seinen Tribut und ich schlief tief und traumlos

Als ich am nächsten Morgen erwachte, spürte ich sofort wieder diese mir so vertraute Anspannung und mein Körper reagierte wie eine Stahlfeder. Ich war schnell auf den Beinen und ausgehbereit. Mein Weg führte mich direkt zu einer Blindenschule. Dort postierte ich mich vor den Eingang und wartete auf die Pause. Zahlreiche Schüler strömten auf den Schulhof. Ich bewunderte den blinden Menschen eigenen Spürsinn für fremde Körper und Gegenstände. Sie näherten sich diesen vorsichtig, registrierten sie als Fremdkörper und wichen ihnen aus. Ich stand dazwischen mit meinem Block und sah jedem einzelnen ins Gesicht, vor allem in die Augen. Sie trugen den bekannten Ausdruck der Blinden, sie waren starr. Manche von ihnen waren so verdreht, dass man nur noch das Weiße der Augäpfel sah. Hier war keine blinde Seherin. Doch ich würde nicht aufgeben. Tage-, wochenlang habe ich es immer wieder an verschiedenen Instituten und Plätzen versucht, aber alles, was ich fand, waren tote Augen, starr und blind.

Im Atelier angekommen, nahm ich meine gewohnten Kreiswanderungen auf und durchwühlte sämtliche Literatur nach einem geeigneten Motiv. Doch nichts befriedigte mich. Auch die zahlreichen Abbildungen der Statuen griechischer, römischer und ägyptischer Bildhauer brachten keine befriedigende Lösung. Meine Hände juckten, mein Geist brannte und meine Besessenheit stand in lichterlohen Flammen. Ich zog meinen Kittel an, grub die Hände in den feuchten Ton und konnte es kaum erwarten, bis ich aus dieser weichen, formlosen Masse die Seherin mit den blinden Augen entstehen lassen würde. Ich konnte sie doch sehen, ich wusste genau, wie sie aussehen musste. Warum zum Teufel brauchte ich eine Vorlage?

Ich schraubte die Unterlage für den Kopf in die Halterung und begann mit der Arbeit. Die tonverschmierte Zigarette klemmte ich zwischen die Zähne. Der Nacken war perfekt, hoch und schlank, das Kinn nach vorne gereckt, das Gesicht leicht angehoben. Die grobe Modelllage des Kopfes zeigte bereits die ihm zugedachte Anmut, hohe gerade Stirne, Schmale Nase, hohe Backenknochen, unterhalb der Jochbögen leicht einfallend. „Ja gut“, drängte ich mich „weiter, weiter“ und die Stunden rannen dahin. Volle Lippen, die Oberlippe leicht aufgeworfen, Augen in die Ferne mit weit geöffneten Lidern, leere Augen – tote Augen.

Ich trat etwas zurück, schob mir mit einer fahrigen Bewegung das schweißnasse, tonverklebte, rote Haar aus der Stirn und betrachtete mein Werk. „Der Hals ist zu lang“, stellte ich fest. „Unsinn“, sagte ich zu mir selbst und kniff die Augen zusammen. Ich ging ein Stück zur Seite – zur anderen Seite – zurück. Doch der Eindruck blieb. „Es ist falsch“, sagte mein Geist bestimmt. „Etwas stimmt nicht.“ Ich wusste, dass ich mich nicht belügen konnte, von keiner Position des Raumes aus. Die Wahrheit starrte mir ins Gesicht. „Das ist nicht die blinde Seherin mit Augen, die Dinge sehen, die sonst keiner sieht, das ist ein Abklatsch von Nofretete in ihrer Totenmaske.“ „Ich kann es ändern“, sagte ich bestimmt. „Ich habe es erkannt, also kann ich es ändern.“ „Du lügst“, schmetterte mein zweites Ich dazwischen. „Es wäre eine billige Kopie ohne Befriedigung und ohne Echtheit. Was du tun musst, tue gleich, du musst sofort handeln!“

Also ging ich hinüber, drehte den Kopf aus seiner Halterung und schmiss ihn in die Tonwanne. Ich zerschlug ihn mit beiden Händen, voller Wut und Entschlossenheit. Ich war wieder am Anfang, aber ich war zu erschöpft, um noch einmal von vorne anzufangen.

Also legte ich mich aufs Bett und starrte an die Decke, bis meine Augen vor Schmerzen brannten und tränten. „Ich krieg’s nicht hin, aber ich werde es schaffen. Ich sehe sie doch so deutlich vor mir, wenn ich nur die Barriere zwischen meiner Phantasie und meinen Händen durchbrechen könnte.“ Ich quälte mich, aber ich würde, musste es schaffen. Ich war ruhelos, wälzte mich hin und her. „Will sie denn nicht leben, das Mädchen mit den blinden Augen?“ Hat mich meine Kunst im Stich gelassen? Doch es brennt noch in mir, das Verlangen nach Vollendung, die Besessenheit, die Hingabe. „Ich will sie erschaffen – das Mädchen mit den blinden Augen!“

Ich konnte nicht länger im Bett bleiben. Entschlossen sprang ich auf und nahm meine Kreiswanderungen wieder auf. „Blinde Augen – blinde Augen, die schöner sind als sehende, blinde Augen, die Dinge sehen, die keiner sieht, blinde Augen, die wahrnehmen durch die Schwingungen des Geistes und weit in dessen Gefilde vordringen, blinde Augen, die wissen.“ Halt! Was zum Teufel hatte ich da eben gedacht? Blinde Augen nehmen durch die Schwingungen des Geistes wahr.  Das war’s! Wie konnte ich nur eine Sekunde lang glauben, dass ich eine blinde Seherin mit wissenden Augen durch die Wahrnehmung der Augen meines Körpers sehen und formen konnte? Wie blind war ich gewesen! Jetzt gab es kein Halten mehr.

Ich ging an meinen Arbeitsplatz, schraubte die Unterlage für den Kopf wieder fest, legte alle Werkzeuge griffbereit, zog den Ton heran, nahm ein großes schwarzes Tuch und verband meine Augen. Finsternis hüllte mich ein, die Dunkelheit, in der Blinde leben. Ein Moment, der sich unangenehm und bedrückend anfühlt. Ich schüttelte ihn ab, versenkte meine Hände in den feuchten Ton und konzentrierte mich. Anfänglich war es mühsam, den Ton auf der Unterlage zu platzieren, das Bild in meinem Geist war noch unscharf. Doch als ich begann zu modellieren, wurde es klarer und klarer, und da war sie – die blinde Seherin!

Ich habe mich schnell an die Dunkelheit gewöhnt und meine Hände wurden immer sicherer. Das Bild des Mädchens und der weiche, formlose Ton haben mir jeden Zug und jede Linie präzise mitgeteilt, sodass ich sie mit meinen tastenden, modellierenden Fingern nachbilden konnte. Hier kam der Nacken schlank und fest, verlief der zarte Hals, man konnte fast das Blut der Arteria carotis klopfen hören. Das stolz erhobene, leicht vorgestreckte Kinn und die Linien zwischen den kleinen, fest anliegenden Ohren und der Kinnspitze waren in perfekter Symmetrie. Ich spürte, wie sich die Knochen des Schädels in einzigartiger Ästhetik aneinanderfügten, die hohen Jochbögen den Untergrund für die einzigartigen Augen bildeten, die in sanften Bögen geschwungenen Brauen mit der steilen Nasenwurzel dazwischen, die Nasenflügel leicht gebläht – alle Sinne der Wahrnehmung aufs Höchste vollendet. Die Linien zwischen Nasenflügel und Mundwinkel sind nur angedeutet, die Lippen sinnlich und voll, leicht geöffnet, bereit, den Kuss aus einer anderen Welt zu empfangen. Die hohe, eigenwillig glatte Stirn, das lange wallende Haar zum Zopf gebändigt und mit Perlenschnüren durchflochten.

Ich arbeitete wie besessen, unermüdlich tastete ich, formte ich, modellierte ich und „sie lebt“ jubelte es in meinem Inneren „ich kann sie fühlen und sie spricht zu mir.“ Ich bewegte mich wie im Fieber, nahm nichts mehr wahr außer dem weichen, wundervollen Ton in meinen Händen, der meinen Träumen, Wünschen, Ideen und Phantasien Gestalt verleiht.

Und jetzt die Augen, die unvergleichlichen Augen. Leer sind sie, und dennoch sehen sie alles. Nicht entrückt, wie „Versunken“, sondern leer, dadurch ohne Weltliches, das ablenkt, und fähig, alles wahrzunehmen und widerzuspiegeln, was jenseits unserer Vorstellungskraft liegt.

Meine Hände tasteten ganz zaghaft über das Gesicht, das eben erst geboren war. Ich griff zur Spachtel und begann, es nach meinen Vorstellungen zu korrigieren und zu feilen. Ich entferne etwas von den Jochbögen, sie wirken sonst zu plump und verwischen den Eindruck der Schatten unter den Augen. Die Nase muss nicht ganz so gerade sein, das Kinn ein wenig abflachen, sonst wirkt es zu spitz. Die Brauen etwas höher und nun die Augen. Ich taste behutsam darüber. Die Augenlider müssen noch ein wenig herabgezogen werden, sonst entsteht wieder der Eindruck einer Totenmaske. Noch einmal glitten meine Finger vorsichtig tastend und fragend über das Gesicht. Und das Gesicht sagte ja, es hatte keine Änderungswünsche mehr.

Langsam zog ich das Tuch von meinen Augen, wandte mich um, weil das Licht mich momentan blendete, und drehte mich dann wieder zurück.

Da war sie, die blinde Seherin, das Mädchen mit den blinden Augen, die schöner waren als sehende. Der Kopf strahlte, der Mund lächelte wissend und die Augen waren leer wie Spiegel, weil ihr Blick sich nach innen richtete und Dinge wahrnahm, die sonst niemand wahrnehmen konnte.

Ich hatte sie der Dunkelheit entrissen, meine Phantasie hatte ihr Gestalt verliehen und meine Hände hatten sie geschaffen um sie für die Ewigkeit zu erhalten.

Ich war vollkommen ausgebrannt, total erschöpft, aber unsagbar glücklich. Die Müdigkeit übermannte mich, ich besprühte den Kopf noch und umwickelte ihn mit feuchten Tüchern, fiel auf mein Bett und konnte doch nicht einschlafen. Noch nie zuvor hat mich ein Werk so gefordert und mir das Maximum an Kreativität abverlangt wie eben dieses. Ich bin überzeugt, dass ich kein besseres mehr erschaffen kann, und bin damit zufrieden.

Mit diesen Gedanken sank ich in den dunklen Tunnel des Schlafes, ließ mich hinein gleiten und bemerkte dennoch die verräterische, unruhig zuckende Flamme der Besessenheit am Ende des Tunnels. Ich wusste ganz genau, dass sich meine Phantasie wieder auf die Reise begeben würde, mein Geist sich daran entzünden und die Flamme der Besessenheit in einen alles andere vergessen lassenden Brand hochlodern würde und mich befähigt Werke zu erschaffen, wie sie die Welt noch nie gesehen hat.




Sonja Henkel, geboren 08.10.1956 in Wien, seit 2015 wohnhaft in Niederösterreich.

Seit über 20 Jahren journalistisch tätig, Verfasserin verschiedener themenbezogener Artikel in den Bereichen Kunst, Naturwissenschaften, Biologie, Tierschutz und Rechtswesen.

2012 erweitert auf Kurzgeschichten, literarische Texte, Romane, 1 Kinderbuch verfasst, weitere sind in Arbeit.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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