Hingabe

Carla Reder für #kkl50 „Hingabe“




Hingabe

Sie trug noch immer ihre Schuluniform, den gestreiften knielangen Rock, die weiße Bluse ohne Krawatte oder Schleife, und die schwarzen, glänzenden Schuhe. Wie eine Katze lag sie zusammengerollt auf meiner billigen Couch in meiner winzigen Wohnung, und nachdem ich meine Hand durch ihre kurzen Haare streichen ließ, schlief sie ein. Nie zuvor hatte ich mich getraut, sie zu berühren, und die Normalität der Situation überraschte mich. Ihr Gesicht sah zum ersten Mal, seit ich sie kennenlernte friedlich aus, wahrscheinlich ist das auch der Grund, wieso ich mich an diesen Tag im Detail erinnern kann. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war einfach so ungewöhnlich an ihr.

Normalerweise war sie ein Mädchen mit Meinungen, schrie aber nicht herum oder versuchte andere umzustimmen wie unsere Klassenkameraden. Lieber machte sie sich ihre eigenen Gedanken und zögerte auch nicht, diese mit anderen zu teilen. Wenn man mit ihr redete, legte sie sachlich ihre Punkte dar, ohne sich aufzudrängen. Ihr Aussehen ist fast noch schwerer zu beschreiben als ihre Persönlichkeit: Sie besaß helle Augen, die vor Wissen und Sarkasmus nur so zu leuchten schienen. Manchmal erinnerte sie mich ein wenig an eine Katze, ihre Züge scharf und klar. Obwohl meine Augen dieselbe Farbe hatten wie ihre (ein verwirrendes Gemisch aus Grün und Blau), schienen meinen nicht so lebendig, nein, sie sahen abgestumpft und langweilig aus. Und langweilig ist wahrscheinlich das beste Wort, um zu beschreiben, wie ich mich neben ihr fühlte. Nicht, dass sie verglichen mit unseren Mitschülerinnen beliebt gewesen wäre. Trotzdem hatte sie einen unglaublichen Charme, der nicht nur mit ihrem Aussehen zusammenhänge konnte.

Es musste demnach an ihrer Persönlichkeit liegen und an der Hingabe, mit der sie über ihre Interessen erzählen konnte. Wenn sie anfing, über ihre Bücher zu reden, vertiefte sich ihre Stimme, wurde zu einem Strudel, der jeden um sie mitzog. Plötzlich befand ich mich nicht mehr in einem Klassenzimmer der schmutzigsten Schule des Viertels, sondern in der von ihre erschaffenen Literaturwelt. Es schien, als müsste ich nur die Hand ausstrecken und ich könnte selbst eintauchen in Kafkas Geschichten, und wenn ich meine Augen schließen würde, würde ich sie als Frankenstein wieder öffnen. Ein Satz von diesem Mädchen genügte, um diese Gefühle in mir auszulösen, doch während es mich faszinierte, schreckte es andere ab. So entstand eine Art unsichtbare Wand zwischen ihr und unseren Mitschülern, und obwohl sie stets freundlich war und diese Freundlichkeit auch erwidert wurde, die Wand blieb stets bestehen. Vielleicht wurde diese brennende Leidenschaft in ihr dadurch bloß angefeuert, denn der Eindruck, den sie auf andere machte, konnte ihr wohl kaum entgehen.

Es war Anfang Frühling, als alle Plätze im Veranstaltungsraum bereits belegt waren und ich mich auf den unbesetzten Stuhl neben sie setzte. Der Titel des Buches auf ihrem Schoß war durch ihre Hand verdeckt. „Kennst du Chekov?“, fragte sie mich unvermittelt, ihre Stimme hob sich klar gegen den Lärm rundherum ab. „Hm?“, machte ich überrascht. „Kennst du Chekov?“, wiederholte sie und starrte mich geradeheraus an. „Chekov…“, sagte ich und mein Kopf war wie mit Watte gefüllt. Natürlich kannte ich ihn, doch wie bei vielen anderen Themen hatte ich die Chance verpasst, mir eine eigene Meinung über ihn zu bilden. Politik, Wirtschaft und sogar Literatur hatten mich nie interessiert, während sie mit Leidenschaft von ihnen erzählte. An den Rest unseres Gespräches kann ich mich kaum erinnern, doch als die Veranstaltung endete, lud ich sie ohne große Hoffnung zum Essen ein.

Ende Mai hielt sie eine Rede, es war zwei Wochen nach dem Tag, als sie auf meinem Sofa einschlief. Sie trug die Schuluniform, frisch gebügelt und sehr elegant sah sie aus. Wie ein Tsunami begann sie zu sprechen, und sofort zog mich ihre Stimme in ihren Bann, ließ mich entkommen aus dem stickigen Klassenzimmer. Jedes ihrer Worte war mit einer unglaublichen Bedeutung und Betonung versehen. „Und deshalb bin ich der Meinung, dass Schulreformen nicht länger aufgeschoben werden dürfen. Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass Bildung wieder das wird, was sie sein sollte: Ein Schlüssel zur Zukunft- und zwar für alle!“ Lauter Applaus, am lautesten von mir, und trotzdem scheinen meine aufeinanderprallenden Hände keinen Ton zu erzeugen.

„Ich muss erst herausfinden, wer ich bin, bevor ich wissen will, wer du bist“, hatte sie gesagt, bevor sie meine Wohnung verließ.

Heute weiß ich kaum, was aus ihr wurde, unsere Wege trennten sich vor der Universität. Sie verschwamm mit der Menge an Studenten, unter denen sie nicht herausstach. Das Katzengesicht wurde Teil einer Masse aus anderen Katzengesichtern, die Stimme verschwand inmitten anderer Stimmen. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass sie nicht weiterhin auf ihre Art besonders ist. Vielleicht trägt sie ihre Bluse in der Uni einen Knopf zu weit offen, vielleicht gibt es andere Jungen, die genau wie ich in den Strudel ihrer Worte fallen, …

Hingabe formt Menschen, und während manche (ich) davon zu wenig abbekommen, hatte sie die zehnfache Portion. Ich wünschte ich könnte so sein wie sie, mein Desinteresse an Politik abschütteln und einfach eintauchen in eine Welt, die mir so unbekannt ist. Ich wünschte ich könnte ihre Augen eintauschen gegen die meinen, denn ihre schienen immer mehr zu sehen und mehr zu fühlen. Ich wünschte, ich hätte sie halten können, für einen kurzen Moment nur.




„Mein Name ist Carla Reder, ich bin 16 Jahre alt und Schülerin. Ich schreibe sehr gerne, vor allem auf Englisch und fertige Bleistiftskizzen und Ölgemälde an.“






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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