Silberhaus und die Zuckerfee

Christa Blenk für #kkl50 „Hingabe“




Silberhaus und die Zuckerfee

Seit einem Dreivierteljahr bewahre ich diesen Haushalt jeden Tag vor dem Untergang.

Ich bin Köchin, Kindermädchen, Problemlöserin und Kummerkasten – wobei ich den meisten Kummer habe. Ich sorge dafür, dass die Kinder angezogen und gewaschen zur Schule gehen, keines verhungert, im Wald verloren geht, sich in der Gefriertruhe versteckt oder sich einem Zirkus anschließt. Ich wohne ebenfalls in diesem riesigen Haus und habe im Erdgeschoss ein großes, helles Zimmer mit einer Flügeltür in den Garten und eigenem Bad. Unser Haushalt besteht im Normalzustand aus 12 Personen. Ein Vater, zehn Kinder und ich. Allerdings haben zehn aufgeweckte, sympathische Kinder viele Freunde.

Eine summende Wühlmaus ist im Vergleich zu dem was sonst jeden Tag hier abgeht eine eher nicht erwähnenswerte Kleinigkeit. Ein Froschduo, das Rossinis Katzen Duett singt und dabei von einem Leguan im Frack am Klavier begleitet wird, könnte mich eventuell noch beeindrucken. Nach seiner Performance sprang Silberhaus schnell wieder auf sein Hamsterrad und grinste mich an, jawohl er grinste! Aber irgendwie will er mir nicht mehr aus dem Kopf gehen, unser musikalischer Goldhamster, der gestern auf der Terrasse hingebungsvoll eine Melodie aus der Nussknacker-Suite summte und sich in – wenn auch ziemlich plumpen – Ballettübungen versuchte. Barfuß, wohlgemerkt, mit vollen Backen und glänzenden Knopfaugen. Nun ja, Hamster und Nüsse, das passt schon. Aber wie kommt er bloß auf den Nussknacker? Dieses Ballett haben wir nicht auf DVD. Allerdings pfeift Ben, seines Zeichens Vater und Ernährer, gerne klassische Ballettmusik, wenn er schwungvoll durch das Haus geht. Ich hätte es ja noch verstanden, wenn er, also der Hamster, mit dem Soundtrack aus Drei Haselnüsse für Aschenputtel brilliert hätte, denn diesen Film wollen die Kleineren ständig sehen, auch außerhalb der Weihnachtszeit!

Vier Kinder hat Ben mit seiner ersten Frau, zwei mit der Zweiten. Beide sind gegangen. Die Erste wegen der Zweiten und die Zweite wegen der vielen Kinder, die allesamt bei ihm blieben. Seine dritte Frau brachte weitere drei Kinder in diese Patchwork-Familie mit, bekam allerdings, bevor er ein Kind mit ihr zeugen konnte, einen Nervenzusammenbruch und verließ hysterisch weinend das Haus – so erzählen es jedenfalls mitleidlos die Kinder. Die flüchtende dritte Frau hat ihre in die Ehe mitgebrachten Balgen zurückgelassen. Besser gesagt, die Kinder weigerten sich, diesen anarchistischen Haushalt zu verlassen. Sie wollten unbedingt bei Ben und der übrigen Horde bleiben. Irgendwann zwischendurch hat Ben ein Pflegekind aufgenommen.

Alle zehn Kinder verstehen sich prächtig untereinander, lieben und vergöttern ihren Vater- oder Pflegevater – Ben macht da keinen Unterschied – und laufen zu kreativer Höchstform auf, wenn es darum geht, Streiche auszuhecken, die Lehrer zu ärgern oder mir das Leben zu erschweren. Die jüngste, Felicitas, wird bald sechs und kommt im Herbst zur Schule. Sie hängt sehr an mit, nennt mich seit kurzem Mama. Wahrscheinlich weiß sie gar nicht, wer ihre leibliche Mutter ist. Dann kommen Clara und Olympia, sieben Jahre. David ist neun, Elisa und Manuel sind zehn, Sabrina gerade elf geworden. Die Zwillinge TomundJerry, nein! das ist kein Scherz, die heißen wirklich so, sind 13-jährige Teenager. Luisa, die Älteste, wird in ein paar Tagen 15. Welches Kind genau von welcher Frau ist, weiß ich nicht so genau und ich bin mir nicht mal sicher, ob sie alle wissen, wer ihre Mutter ist und wie gesagt, von vier Kindern ist Ben auch nicht der leibliche Vater. Trotzdem sehen sie ihm ähnlich. Bis auf die rothaarigen, kräftigen Zwillinge sind alle Kinder dunkelhaarig, blauäugig und schlaksig wie er.

Ben ist 44 Jahre alt, immer ausgeglichen und zuvorkommend und besorgniserregend attraktiv. Er ist ein ziemlich erfolgreicher Musiker, der genug Geld verdient, diese vielen Kinder, das große Haus, mit mir und noch zwei anderen Angestellten, die abwechselnd kommen und sich um die Sauberkeit und den Garten kümmern, unterhalten zu können. Die Kinder sind eigentlich auch ganz ok, jedes für sich alleine, aber alle zusammen sind sie eine Zumutung! Zu meinen Aufgaben gehört es auch, den oft abwesenden Vater bei Schulterminen zu vertreten, was definitiv zu den unangenehmeren Tätigkeiten zählt. Hier wäre ein Härtezuschlag durchaus gerechtfertigt, zumal ich mindestens einmal pro Woche beim Direktor oder bei irgendeinem Lehrer antanzen muss. Ich habe Ben leicht in Verdacht, dass er seine Reisen absichtlich auf die Schulsprechtage legt. Die Tatsache, dass diese Kinderschar vier Mütter hat, also seine drei Ex und die Mutter des Pflegekindes, eines eine zweite Runde in der dritten Klasse drehen durfte und ein Oktobergeborenes nicht mehr eingeschult wurde, bringt es mit sich, dass in einigen Klassen gleich mehrere von Bens Brut unterrichtet werden: ein Alptraum für jeden Lehrer. „Wie viele Benedikt-Hubermann-Kinder sind in dieser Klasse?,“ ist die Standardfrage, wenn die Unruhen nicht aufhören wollten.

Ach ja, jedes Kind spielt natürlich ein oder mehrere Instrumente; Luisa Cello und Klavier. Sie bekommt außerdem Gesangunterricht und hat die großartige Jazz-Stimme ihrer Mutter geerbt. Die Zwillinge spielen Tuba und Percussion, Sabrina Geige, Manuel, er ist meines Erachtens der begabteste, spielt Klavier, Bratsche und Saxophon. Elisa mit großem Engagement Harfe, David Kontrabass und Gitarre, Clara, Olympia und Felicitas spielen Klarinette, Querflöte und Blockflöte. Die Kinder sind talentiert, ohne Zweifel, und wenn sie gemeinsam spielen hört sich das manchmal richtig gut an. Tanzunterricht bekommt niemand. Clara hatte einmal kurz angefangen, weigerte sich aber, sich der harten Disziplin zu unterziehen und warf nach sechs Monaten das Handtuch. Sie bewegt sich seitdem wie eine Ballerina. Und weil ja zehn Kinder noch nicht genug Ärger und Arbeit machen, haben wir außerdem einen großen, sehr lieben Golden Retriever mit dem wohlklingenden Namen Baron Klug. Die drei Katzen hören auf Merlin, Floh und Diva. Der Papagei, Flaubert, spricht in der dritten Person von sich. Das unzertrennbare Hasenpaar heißt Colombina und Harlekin. Zwergchen ist eine ziemlich große, unabhängige Schildkröte und dann eben der neuerdings musikalische Goldhamster, Silberhaus. Er sang mir gestern die Zuckerfee vor und hopste dazu unkoordiniert herum.

Ben hatte mich beim Einstellungsgespräch auf ein sehr lebendiges, freies Haus vorbereitet. Ich hätte bei dem mehr als großzügigen Gehalt allerdings sofort stutzig werden müssen. Die Kinder wären allesamt sehr temperamentvoll und frei, meinte er. Er hat sie aber vorsichtshalber beim ersten Gespräch versteckt. Ich bin drei Jahre jünger als mein Arbeitgeber, ausgebildete Kindergärtnerin, frisch geschieden und habe keine eigenen Kinder. Mein Ex hatte weder Geld noch war er so nett und großzügig wie Ben. Also ich als Kind hätte auch alles getan, um bei Ben zu bleiben. Die Kinder beten ihn an und tun alles, was er von Ihnen verlangt, nur verlangt er leider nie etwas von seinen Sprösslingen und Befehl oder Verbot sind Wörter, die in seinem Wortschatz nicht vorkommen. Eine neue Frau habe ich seit meinem Ankommen hier nicht gesehen. Allerdings machte Luisa vor kurzem eine Bemerkung in diese Richtung und meinte, dass es doch schön langsam Zeit für ein Baby wäre, was bei mir sofort zu Schweißausbrüchen führte und die Überlegung, mir schnell einen anderen Job zu suchen, ankurbelte. Vielleicht denkt Luisa aber auch daran, selber ein Kind zu bekommen. Sie ist zur Zeit sehr verliebt und vernarrt in ihren kleinen Geschwister.

Ich bin noch nicht verzweifelt genug, das Handtuch zu werfen. Die Kinder sind im Großen und Ganzen lieb und höflich zu mir, nur hören sie nicht auf mich. Wenn ich meine diesbezüglichen Probleme Ben gegenüber erwähne, nimmt er das auf die leichte Schulter.

„Ich kann Dein Gehalt erhöhen, wenn Du willst“, sagte er mir bei unserer letzten Diskussion. „Ich will kein höheres Gehalt, sondern ab und zu ein wenig Zeit für mich, dann und wann ein Buch lesen. Ich brauche mal einen freien Tag, muss raus, ins Kino, zum Essen. Was soll ich mit dem ganzen Geld, wenn ich es nicht ausgeben kann, weil ich hier rund um die Uhr Feuerwehr spielen muss. Ich mag die Kinder, sehr sogar, versteh mich nicht falsch, aber ich habe hier nichts im Griff.“ Darauf lachte er nur und meinte, er würde mich demnächst mal zum Essen und ins Konzert ausführen und ich wäre seine Heldin, würde das alles ganz toll machen und er und die Kinder könnten sich glücklich schätzen, mich gefunden zu haben. „Lass doch die Kinder einfach Kinder sein, benutze Oropax und lies ein Buch, wenn Dir danach ist. Über mehr Freizeit können wir reden.“ Mit diesen Worten schenkte er mir sein unwiderstehlichstes Lächeln, stand auf, strich mir über die Haare und ging, den Blumenwalzer aus dem Nussknacker pfeifend, tänzelnd weg. Das war zwei Wochen vor Silberhaus‘ Auftritt auf der Terrasse.

Jetzt warte ich auf den versprochenen Abend mit Ben, lasse die Kinder Kinder sein und höre mir in der Schule, im Schulbus oder beim Sport und überhaupt überall die Klagen an und nicke freundlich dazu. Morgen Abend kommt Ben von seiner Reise zurück. Ich werde gleich als erstes ein ernstes Wörtchen mit ihm reden. So kann es nicht weitergehen. Auch mit den Kindern ist eine Grundsatz-Unterhaltung fällig. Mal sehen, wie viele heute zum Abendessen erscheinen, denn das ist auch so eine Sache. Bei den drei Kleinen weiß ich es meist, denn die hole und bringe ich in den Kindergarten beziehungsweise in die Schule. Aber sie warten nicht immer auf mich. Wenn ich mich auch nur eine Minute verspäte, gehen sie direkt mit anderen Kindern nachhause. Felicitas fand ich vorgestern erst bei der dritten Freundin. Ich muss hinzufügen, dass alle Mütter der Kinder aus den unterschiedlichen Klassen in Ben verliebt sind und sich geradezu anbiedern, ab und zu seine Brut zu hüten und ständig hier anrufen. Das passt mir dann aber auch nicht, denn es kommt einer Niederlage gleich. Außerdem gönne ich Ben keiner von denen.

„Felicitas, wieso kann Silberhaus plötzlich singen?“ Frage ich dann doch die Kleine auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten.

„Ach so, Silberhaus, ja, der ist clever. David trainiert mit ihm seit Monaten.“

„Woher weißt Du das?“

„Das weiß doch jeder, dass David mit Silberhaus eine Zirkusnummer einstudiert.“

„So, so“ sage ich nur, denn mir ist das neu. Silberhaus gehört Luisa. Sie hat ihn von ihrer Mutter zum 14. Geburtstag bekommen, per Bote. David habe ich noch nie in der Nähe von Silberhaus gesehen. Aber ich kann mich natürlich täuschen und schmiere hier eventuell gerade die Butterbrote für den nächsten Houdini.

Beim Abendessen sitzen dann wirklich alle Kinder und noch zwei Freunde von David um den riesigen Tisch. Also strecke ich die Tomatensoße und werfe eine Packung Spaghetti mehr in den Kochtopf. Käse haben wir immer genug.

„David, ich wusste ja gar nicht, dass Du Silberhaus abrichtest?“ sage ich leichtherzig, während ich ihm eine Portion Nudel auf den Teller schaufle.

„Silberhaus, nein tue ich nicht, Silberhaus gehört Luisa.“

„Aber Felicitas meint, dass Du mit Silberhaus trainierst. Er kann jedenfalls die Zuckerfee aus der Nussknacker-Suite summen und dazu tanzen. Allerdings ist er noch nicht ganz bühnenreif!“ „Ach, Silberhaus kann summen und tanzen. Hast Du gut gemacht Luisa“, sagt David ohne aufzublicken. Luisa lächelt selig in die Tomatensauce und hört gar nicht zu. „Silberhaus stammt von einer Musikerfamilie ab“ sagt Jerry. „So wie Mozart oder Papa“, fügt Tom hinzu.

„Ach ja!“ sage ich verlegen. „Aber habt Ihr ihn dabei auch schon mal gesehen, beim Singen und Tanzen?“

„Klar“, sagen einstimmig Davids Freunde, während unsere Kinder sich über ihre Spaghetti beugen und grinsen. Oder bilde ich mir das vielleicht nur ein?

Beunruhigt erwäge ich kurz, die Gehaltserhöhung samt Härtezuschlag anzunehmen und demnächst in Frührente zu gehen!

„Wir mögen Dich“, sagt plötzlich Sabrina und strahlt mich an. Die anderen nicken heftig dazu und feixen weiter.

Ich dränge schnell den Frührentengedanken zurück und wappne mich für die kommenden Herausforderungen.

Außerdem schuldet mir Ben ja noch einen Konzertbesuch mit Abendessen!




Christa Blenk lebt in Niederbayern und am französischen Atlantik. Seit ein paar Jahren veröffentlicht sie regelmäßig Kurzgeschichten/Erzählungen in Anthologien und Literaturzeitschriften und schreibt für ein Berliner Online Magazin Artikel über Reisen, Literatur, Musik und Kunst, darunter auch ihre Kolumne (https://kultura-extra.de/kunst/werkbetrachtungen.php).






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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