Die Diagnose

Kira Huth für #kkl51 „Passagier“




Die Diagnose

In der U-Bahn flackert das Licht, manchmal geht es ganz aus. Sanft rattert der Waggon in die Kurve, es rüttelt nach links und nach rechts, ich schwinge unfreiwillig mit. Pendler hängen träge in den Halteschlaufen, sie tragen das Bett noch im Gesicht. Meine Augen suchen Halt auf neutralem Grund. Grauer Boden, Schuhspitzen, Fenster ohne Panorama. Mein Blick bleibt am Foliendruck des Brandenburger Tors auf der speckigen Scheibe hängen. Dahinter zischt die Tunnelwand vorbei, Kabel, Beton. Sie haben einen Strich an einer der Säulen perspektivisch falsch angeordnet. Das Tor gibt einen unruhigen Anblick ab, es ist nicht gleich klar, wieso. Der Fehler ist unauffällig, aber gravierend genug, um das ganze Bild zu stören. Eine kleine Unregelmäßigkeit, überall, auf jedem Zug. Tausendfach reproduziert und über die ganze Stadt verteilt. Ich frag’ mich, wer das zu verantworten hat. Eine kleine Unregelmäßigkeit, hatte die Frau mit den viel zu kalten Papierfingern zu mir gesagt. Das werden wir prüfen. An der nächsten Station sehe ich drei dunkle Jacken im Schlendergang, Ausweise um den Hals. Ich springe aus dem Zug, mein Herz stolpert. Auf dem Bahnsteig wird mir kurz anders. Die Plattform verschwimmt, mein Blick kippt irgendwie zur Seite. Ich hocke mich hin und schließe die Augen. Es riecht nach warmen Schrippen vom Backshop und ausgekipptem Bier.

Umstieg. In der nächsten Bahn stehe ich eingeengt zwischen allerlei Leuten, Studis, Touris und Angestellte und als sich die Türen mit ihrem üblichen Piep-Konzert schließen, fliegt ein Marienkäfer ins Abteil und verirrt sich an die Haltestange. Ein Ruck geht durch die Bahn, die in Trance Stehenden schwanken synchron. Der rot-schwarze Passagier surrt gegen die Scheibe, TICK! Und mit Entsetzen sehe ich, wie er unter einen Klappsitz fällt, auf dem ein korpulenter Alter sich nicht rührt. Zu weit weg für mich, zu groß der Aufwand, den Gepunkteten unter den Schuhen und im Muff der Leute zu suchen, wo ich doch so eingequetscht stehe, dass drei Menschen mich beim Fahren halten. Mein Puls flattert, schnell. Ein Anzugträger steht am nächsten. Er bückt sich, greift um den Dicken herum und birgt den Marienkäfer in seinen Händen. Die Pendleraugen bleiben leer. Ich will dem Mann zunicken, ihm sagen, ich hab’s genau gesehen, gut gemacht. Doch der Anzug macht kein Aufhebens. Er blickt nicht links und nicht rechts, sucht keine Anerkennung. Starrt stur geradeaus auf die vorbeifliegende Tunnelwand, die eine Hand mit Hohlraum haltend für den Käfer. Noch zwei Stationen, dann steigt er aus. Auch ich verlasse die Bahn. Einen Stopp zu früh eigentlich, doch ich will gucken, wie der Mann das Tierchen in die Freiheit entlässt. Ich folge den beiden über die Treppen nach oben. Der Anzug ist schnell. Mit langen Schritten läuft er auf den Ausgang zu und ist schon fast davon, als ich endlich die oberste Stufe erreiche und in den hellen Tag blinzle. Ich entdecke ihn am nächsten Baum. Ohne ein Zögern schüttelt er den Gepunkteten ab und hastet davon, als wäre das Tier ihm irgendwie lästig. Ich trete an die Linde heran und blicke ihm hinterher. Er ist Berater, Banker oder Beamter. Ein Mann in Grau, der einen verirrten Marienkäfer rettet. Ich suche den Baumstamm ab. Der Gepunktete ist bereits auf und davon, schade. Mein Herzschlag beruhigt sich allmählich. Ich atme tief ein, der Himmel ist blau und weiß. Ein Krankenwagen zischt vorbei, Sekunden später ertönt die Sirene. Ich weiß, wo der hinfährt. Wir haben die gleiche Richtung.




Kira Huth (1992) studierte Literaturwissenschaften und Philosophie. Ihren Master absolvierte sie in Medienwissenschaften und Multimedia and Visual Arts. Sie arbeitet als Redakteurin bei Table.Media und als Korrektorin für Hörbücher. Sie lebt in Berlin und schreibt journalistische Texte, Drehbücher und Prosa. Ihre Kurzfilme liefen auf verschiedenen Festivals, darunter das Achtung Berlin Filmfestival 2022. Aktuell arbeitet sie an ihrem ersten Roman.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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