Symbiose

Claudia Overbeck für #kkl50 „Hingabe“




Symbiose

Schau mal, komm mal ganz nahe heran. Kannst du etwas sehen? Heute Morgen habe ich wieder in den Spiegel geguckt, hab in meine Pupille geschaut. Er hat sich nicht gezeigt. Aber vielleicht siehst du etwas? Nein?

Ich weiß, dass er in meinem Kopf ist und meine Augen benutzt, um in die Welt zu schauen. Mal das linke, mal das rechte. Vor wenigen Tagen habe ich ihn das erste Mal bemerkt. Ich vermute, er ist noch nicht viel länger da. Er ist wohl umhergeflogen wie die Glassplitter des Teufelsspiegels aus dem Märchen. Du weißt schon: die Schneekönigin. Und … ssssssit … landete er in einem Auge. Hat mich gefunden. Ich frag mich, was er von mir will. Hat er mich sorgfältig für sein Unternehmen ausgesucht oder bin ich ein Zufallstreffer?

Ich habe seine Schritte gehört – tack, tack, tack – von einem Ohr zum anderen oder im Kreis herum. Als würde über mir in der Wohnung jemand hin und her laufen. Klar bin ich zuerst in Panik geraten. Ich hab versucht, das Geräusch los zu werden mit Kopfschütteln und Hüpfen. Auch mit Yoga hab ich’s versucht. Dann konnte ich spüren, wie er mit den Fingern an der Innenseite meiner Schädeldecke entlangfuhr. Er hat wohl sein neues Zuhause ausgemessen. Ein durchaus angenehmes Gefühl, welches noch angenehmer wäre, wenn ich den Grund seines Besuches kennen würde.

Es ist nicht so, dass ich mich durch ihn sehr verändert habe. Oder bist du der Meinung, ich wäre komisch geworden, übermäßig traurig, verrückt? Nicht mehr als sonst, oder? Deshalb dachte ich, er ist gar nicht so übel und es schadet nicht, wenn ich ihn anspreche.

„Gefällt dir dein neues Zuhause?“, fragte ich ihn. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass er meine Gedanken sowieso hören könnte. Und wenn, du meine Güte, dann müsste er sie ja pausenlos hören und würde vermutlich gar nicht mehr darauf reagieren. Nein, diese spontane Eingebung, ihn laut anzusprechen, war genau richtig. Trotzdem musste ich meine Frage mehrmals wiederholen, denn eine Antwort bekam ich zunächst nicht von ihm. Wohl aber von meinen Mitmenschen. Meine erste Kontaktaufnahme fand nämlich unvorsichtigerweise in der Öffentlichkeit statt. Du hast davon gehört? Die Menschen warfen mir im Vorbeigehen ihre „Jas“ und „Neins“ mit einem scheuen Blick zu, als würden sie einem Straßenmusikanten einen Knopf in den aufgeklappten Geigenkasten fallen lassen.

„Gefällt dir dein neues Zuhause?“

Hättest ruhig mal aufräumen können“, sagte er.

Bis dahin hätte ich schwören können, dass mein Hirnstübchen genauso sauber und ordentlich wie meine Wohnung war. Hirnstübchen – das Wort hat eine völlig neue Bedeutung für mich. Na, jedenfalls wollte ich den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen, nachdem er nun endlich antwortete. „Wer bist du also?“, fragte ich.

Ein Passagier. Ein Eindringling. Ein Dämon.“ Seufzen. „Ich dachte, ich könnte mal Urlaub machen. Ich bin müde.“

Danach herrschte Funkstille. Er schlich nur noch durch seine Wohnung und sprach nicht mehr mit mir. Ich sollte sicher nicht wissen, was er tat und was er vorhatte.

Ja, ich gebe zu, ich habe mich betrunken. Aber auch der Alkohol löste ihm nicht die Zunge. Ich konnte bisher nicht einmal in Erfahrung bringen, ob es ihm gefallen hat.

Was sagst du? Eine dumme Idee? Hätte auch nach hinten los gehen können? Du weißt offenbar nicht, in welch verzweifelter Lage ich bin.

Dann begann das Hämmern. Er baute um – das musste es sein. Er veränderte meinen Kopf. Von innen. „Was soll das?“, fragte ich immer wieder, als er sein Hämmern und Sägen über Stunden fortsetzte. Meine Nachbarn im Hause hatten sich bereits daran gewöhnt, dass ich murmelnd und schwatzend an ihnen vorbeilief, gefangen in dem Versuch, ihm endlich doch wieder ein paar Worte zu entlocken. Aber die Menschen im Bus oder im Einkaufscenter schauten immer noch erschrocken, manchmal auch böse. Du hast von meiner Veränderung gehört? Du hast dir Sorgen gemacht? Wirklich? Aber höre weiter.

„Willst du mich wahnsinnig machen?“

Klopf, klopf. Er arbeitete also noch.

„Soll ich etwas tun? Was?“

Stille! Schweigen. Die Ruhe in meinem Kopf war himmlisch. Ich lief in den Park, setzte mich auf eine Bank und ließ die Luft aus meinen Lungen strömen, bis ich beinahe zusammensackte.

Finde meinen Freund.“

Ich zuckte zusammen, sag ich dir. „Deinen Freund? Wie soll ich das machen?“

Finde ihn.“ Und er hämmerte wieder los. Lauter als vorher. Es war zum Verrücktwerden.

„Wollt ihr etwa beide bei mir wohnen?,“ schrie ich gegen den Lärm an. Die Leute … Verdammt, ich wurde angeschaut, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Eine von der Sorte, die üble Hautausschläge mit stinkendem Schorf produziert. Ich kratzte meinen Arm. War das so? War ich krank? Verrückt? Egal, wir würden uns schon arrangieren, mein Fundstück und ich. Vielleicht würde er ja auch zu seinem Freund ziehen, wenn ich den gefunden hatte.

Du meinst, ich hätte zu einem Arzt gehen müssen? Mag sein, aber nun ist es zu spät.

Mittlerweile wage ich kaum noch, im Ganzen zu denken, versuche, immer nur einzelne Wörter in einer sinnlosen Reihenfolge zusammenzusetzen. Ich weiß ja nicht, wie viel er mitbekommt in meinem Kopf. Nutzt er nur den Raum oder auch den Inhalt? Bin ich abhörsicher?

Heute Morgen dann, pass auf, heute Morgen habe das Licht über dem Spiegel eingeschaltet. Ein wahnsinnig helles Licht. Wie immer in meine Augen geschaut. Rechts. Links.

„Hast du ihn gefunden?“

Was für eine blöde Frage, oder? Wie sollte ich das wohl anstellen, so ohne jegliche Informationen. „Nein. Du musst mir schon helfen. Was soll ich denn machen? Alle Leute verfolgen, die Selbstgespräche führen? Die Parasitenjäger rufen? Jedem, der mir danach aussieht, als würde er einen Dämon beherbergen, mit einer Taschenlampe ins Auge leuchten?“

Wäre eine Möglichkeit.“

Warte, geh noch nicht. Er hat mir dann gesagt, wo er abgestürzt ist und ich bin raus, es war ja ein herrlich sonniger Tag. Ich setzte mich auf den kalten steinernen Rand des Springbrunnens vor dem Rathaus und ließ meine Blicke über den Marktplatz spazieren. „Bist du dir sicher, dass ihr beide hier abgestürzt seid?“

Natürlich“, sagte er.

Das war`s. Mehr nicht. „Es gibt doch Hunderte von Möglichkeiten. Vielleicht liegt er hier noch irgendwo, dein Freund. In einer Fuge zwischen den Steinen.“

Nein, wir bleiben so lange in der Schwebe, bis wir ein Zuhause gefunden haben.“

Prima, oder? Warum ich, fragte ich mich nicht zum ersten Mal. Und ist stellte mir auch nicht zum ersten Mal die Frage, wie lange so ein Zuhause wohl bewohnt wird. Oder wie dieser Freund wohl aussieht, geschweige denn mein Bewohner. Vielleicht ist er gar keine Person, vielleicht ist er nur ein Zellhaufen wie eine Amöbe oder er ist ein Nebel oder …

Du könntest nach ihm rufen.“

„Jetzt reicht es aber. Ich rede den ganzen Tag vor mich hin, die Leute halten mich für verrückt, und jetzt soll ich auch noch schreien?“

Du redest nicht vor dich hin, sondern mit mir. Das ist vollkommen in Ordnung. Und du sollst nicht nach ihm schreien, sondern rufen. Ist doch nicht zu viel verlangt.“

„Halt mal den Mund. Ich muss nachdenken.“ Dafür kassierte ich wieder einmal einen empörten Blick von einem Passanten. Das berührte mich aber kaum noch. Ich bin mittlerweile in einer Position, die man früher als Dorftrottel bezeichnet hätte. Ich sehe, du weißt, was ich meine. Immerhin wohnen wir ja auch in einer kleinen Stadt und nicht in Berlin oder Hamburg. Man kennt mich. Hast du leider gesagt? Nein?

„Wann hast du mich bezogen? Was hier Markt? War Wochenende? Bummelten viele Menschen durch die Stadt, um die ersten warmen Sonnenstrahlen zu spüren, das aufkeimende Leben im Frühling, das Gefühl der Hoffnung nach dem kalten Winter?“

Doch, genau das war es, was ich sagte. Und weißt du, warum ich mich daran so genau erinnere? Er jaulte auf. Als hätte ihm jemand auf den Fuß getreten oder in den Arm gekniffen. Ich fragte nach: „Was ist?“

Sag nicht so etwas.“

Und damit hatte er verloren. Verstehst du? Er weiß es. Er schweigt seitdem. Die Rollen sind neu verteilt. Ich gebe jetzt den Ton an. Aber zurück zum Marktplatz.

Ich spürte sein Entsetzen. Mein Kopf wurde kalt. Aber ich füllte ihn wieder mit Wärme. Ich stand auf, breitete die Arme aus und rief: „Hört, ihr Menschen, hört. Der Winter hat den Kampf verloren. Erst wenn die letzten Blätter gefallen sind, erst wenn die Erde sich zur Ruhe legen will, wird er wieder Kraft gewinnen. Lasst uns ihm trotzdem danken. Lasst uns ihm danken und lasst ihn ziehen. Begrüßt mit mir die Sonne, den Frühling, die keimende Kraft.“

Er jaulte, sag ich dir. Er hasst es, wenn ich das mache. „Und hört, hört, ihr guten Bürger. Der Frühling spricht von Hoffnung. Wer mag da noch mit gesenktem Blick und tief betrübter Miene umhereilen? Wer möchte da nicht frohlocken, die Himmel preisen, dem Mitbürger, dem Nachbarn, dem Freund, in die Arme fallen.“

Lautes Jaulen. Er wird sich daran gewöhnen müssen. Ich werde reden, rufen, verkünden. Ich werde die Schönheit der Welt besingen. Wenn er die Schärfe meines Schwertes erkannt hat, wird er sich geschlagen geben müssen. Und wenn er mich nicht verlassen kann, so wird unser gemeinsames Leben bestimmt sein von einem Waffenstillstand, umwölkt von meinen schönen Worten, meiner schönen Stimme, die die Herzen der Menschen rühren wird. Und sie werden nicht mehr denken, ich sei verrückt. Sie werden mir zuhören. Sie werden meinen Worten lauschen, die honigsüß von meinen Lippen tropfen. Sie werden nicht schlafen können, ohne mich gehört zu haben. Ich werde ihren Kummer hinwegsingen, ihre Qualen lindern nur mit meiner siegreichen Stimme. Balsam für ihre geschundenen Seelen.

Warte, ich kann dir noch eine Kostprobe geben. Warte doch, mein Freund.




Claudia Overbeck ist auf dem platten Land aufgewachsen, von Kindesbeinen an eine Leseratte – noch heute ist kein Papierschnipsel vor ihr sicher. Eine notorische Spätzünderin, die nach einem kreativen Umweg über das Zeichnen und Malen 2009 angefangen hat, die in ihrem Kopf keimenden Geschichten auf Papier zu bannen. Zwei Kinder, zwei Kater, eine Mutter, eine Schwester. Lebt in einem Dorf, wieder auf dem flachen Land.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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