Passagier in der Bahn, Passagier im Leben

Xaver Egert für #kkl51 „Passagier“




Passagier in der Bahn, Passagier im Leben

Es war einer jener Tage im Sommer, in denen man das Gefühl nicht loswurde, wie ein Eis am Stiel langsam aber sicher zu schmelzen. Und wenn man sich – rein hypothetisch – dann auch noch an der S-Bahn-Haltestelle Marienplatz befand und mit einer riesigen Menge Menschen in einem aufgeheizten Gewölbe auf seine S-Bahn wartete, dann war die Geduld, nun ja, begrenzt. Erst recht, wenn sich mit einem Ton die Durchsage ankündigte, dass die erhoffte Bahn ausfiel.

Dann ging leise, fast unterschwellig, ein kollektives Seufzen der Leidensgenossen durch den Bahnhof, meist gefolgt von einem Fluchen von ein oder zwei Zeitgenossen, denen es für derartige Manöver entweder an Zeit oder an Geduld mangelte.

Erst im Nachhinein wird einem meistens klar, wie sehr diese Situationen einen grundlegenden Widerspruch in unserer Gesellschaft zum Vorschein bringen: Einerseits betonen wir immer, selbstbestimmt, autonom und unabhängig zu sein. Und andererseits sind wir genau das eben nicht. Wir sind abhängig; abhängig von unserem Beruf, unserer Familie, unseren Träumen und Wünschen und ja, auch abhängig vom Kommen und Fahren der S-Bahn. Und wenn wir dann endlich in der Bahn einen Sitzplatz gefunden haben und uns ausrechnen, wann wir ankommen werden, wird uns auch hier sehr selten klar, wie ungeheuer passiv wir in diesem Moment sind, es sogar sein müssen. Wir sind Passagiere, die Bahn fährt jemand anderes.

Und ist das nicht auch eine wundervolle Metapher für das Leben? Auch wenn wir uns immer vorspielen, selbstbestimmt und unabhängig zu leben, fahren wir doch die meiste Zeit durch einen Tunnel, den eine andere Macht bereits für uns gegraben hat. Diese Macht ist eine Gemengelage aus gesellschaftlichen Normen, unseren von der Umwelt nicht unbeeinflussten Wünschen, Vorgaben von außen und vielem mehr. Manchmal liefern wir dabei ganz selbstbestimmt einen eigenen Input, etwa indem wir uns für oder gegen ein bestimmtes Studium entscheiden. Doch je mehr Zeit wir damit verbringen, über die Ursachen unserer Entscheidungen nachzudenken, desto mehr wird uns klar, wie sehr diese von außen beeinflusst werden. Meist durch die Vergangenheit, die die Gegenwart gestaltet und somit auch die Zukunft bestimmt.

Anders gesagt, sind wir nicht nur beim Bahnfahren Passagier. Wir sind es auch im Leben. Wir nehmen in einem Zug Platz und fahren durch die Dekaden, manchmal aktiv-verändernd, meistens passiv. Wo man uns absetzt? Damit haben sich schon viele Religionen und noch mehr Philosophen befasst. Die Antwort werden wir aber wohl erst wissen, wenn wir angekommen sind. Doch zurück zu uns Passagieren.

Es liegt nichts verwerfliches darin, als Passagier von jenen abhängig zu sein, die einem den Weg ebnen (oder ihn erst ermöglichen). Eine Welt voller Unabhängigkeit muss eine harte, kalte Welt sein. Es ist eine Welt, in der Rücksicht gegenüber seinen Mitmenschen optional ist. Ein furchtbarer Gedanke. Bereits heute erliegen manche dem Trugschluss, ihre Mitmenschen schlecht behandeln zu dürfen, in der Annahme, sie wären von ihnen unabhängig. Die Konsequenzen beweisen häufig jedoch das Gegenteil. Wir sind abhängig voneinander, abhängig davon dass andere sich um uns kümmern, abhängig davon dass andere uns ihr Wissen vermitteln, abhängig davon, dass andere uns lieben. Und ja, wir sind auch abhängig davon, dass andere unsere S-Bahn fahren.

Es ist nichts Verwerfliches daran, Passagier zu sein. Abhängigkeit macht uns nicht schwach. Sie legt die Grundlage für Kooperation und macht uns somit stark. Sie macht uns menschlich.

Auch wenn wir das an einem heißen Tag im Sommer gerne schnell vergessen: Schlimmer, als auf eine verspätete Bahn zu warten, ist immer noch, wenn es diese Bahn gar nicht gibt. Denn dann heißt es Laufen.




Xaver Egert, geboren 2004, studiert Psychologie in München. Er ist interessiert an Psychologie, Literatur, Politik und Umweltschutz. Er ist Mitautor des Klimanewsletters der Gemeinde Unterhaching bei München und hofft, mal ein eigenes Buch zu veröffentlichen.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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