Niko Kreische für #kkl51 „Passagier“
Der Passagier
Auf dem Luftschiff Galant grassierte seit Tagen ein Fieber. Es war weniger eine Krankheit, als vielmehr brennende Neugier.
Es war ein Passagier, der in Malaking-Simula zugestiegen war, und bei den anderen Reisenden sowie dem Personal diese Empfindung auslöste und die Vorahnung schürte, auf der Reise nach Kis Kematian könne noch etwas Unerwartetes geschehen.
Der Passagier war groß, blond und zwischen seinen ozeanblauen Augen steckte eine bemerkenswert schiefe Nase. Sie vollführte einen gewagten Schwenk zur Seite. Offensichtlich gebrochen, saß sie wie eine erbeutete Trophäe in seinem sonst wohlproportionierten Gesicht. Alle waren von dem schweigsamen Mann fasziniert. Eine Aura von Unnahbarkeit umgab ihn, weshalb niemand es wagte, ihn anzusprechen.
Umso verstörter war man, als der besagte Gast an einem Abend in der Bar Tuchfühlung mit einem Herrn aufnahm, der hinter vorgehaltener Hand das Walross genannt wurde. Es war Adelher von Grobkowski-Zast, ein lauter Mann, mit prallem Bauch, dicken Ringen, kleinen Augen und voluminösen Schnurrbart. Durch Waffengeschäfte war er steinreich geworden, liebte den Prunk und die Gesellschaft adretter, junger Männer. Das diensthabende Personal und die Barbesucher waren daher fassungslos, als der Passagier eben mit diesem berüchtigten Waffenbaron anbändelte.
Wenige Minuten später wusste jeder an Bord Bescheid. An diesem Abend wurde über nichts anderes gesprochen. Man kam zu der Erkenntnis, dass der geheimnisvolle, schöne Mann zweifelsohne ein Gigolo war.
Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, war das Bordrestaurant fast leer. Nur ein Tisch war zu dieser frühen Stunde besetzt. Es war der Passagier, über den alle sprachen. Die anwesenden Bediensteten warfen ihm verstohlene Blicke zu. In ihnen brannte die Sensationslust.
Einer von ihnen, wünschte, er wäre von dem Feuer verschont geblieben. Tassilo fühlte sich von dem, was er wusste und vermutete, beschmutzt.
Der Passagier war zwar immer freundlich und erweckte auch sonst den Eindruck, er wäre ein guter Mensch, aber genau das glaubte Tassilo nicht.
Hätte er nicht gestern Dienst als Zimmerjunge gehabt, wäre er noch heute gegenüber dem Passagier wohlwollend eingestellt. Aber er war im Zimmer des Mannes gewesen, das trotz seiner Aufgeräumtheit etwas Verbotenes, ja sogar etwas Unmoralisches an sich hatte.
Der Koffer und eine Reisetasche hatten akkurat neben dem Wandschrank gelegen. Am Garderobenhaken hing ein Reisemantel. Darunter parkten vier Paar Schuhe. Sie waren sortiert. Von hell nach dunkel. Den Abschluss der Reihe bildete ein Paar Wildlederschuhe. Einem fehlte der Schnürsenkel.
Tassilo hatte sich vorgenommen, dem Passagier passenden Ersatz parat zu legen. Auf dem Bett, dessen Bettzeug Tassilo noch ordnen musste, ruhten schwarze Strümpfe. Ansonsten lag nichts herum. Keine persönlichen Gegenstände, weder auf dem Tisch, noch in den Regalen. Keine Wäsche auf dem Boden oder Handtücher im Badezimmer. Es waren noch nicht einmal die Wassergläser oder das Schreibset verrückt worden. Das war ungewöhnlich.
Tassilo kannte es anderes. Von dem, was die Gäste offen in dem Zimmer liegen ließen und wie sie mit dem Interieur umgingen, sagte einiges über sie aus. Tassilo wusste, dass gerade die reichsten oft die unordentlichsten Menschen waren. Aber dieses Zimmer verriet überhaupt nichts über seinen Bewohner und das hatte Tassilo stutzig gemacht.
Er hatte seine Arbeit begonnen, das Bett gerichtet, das Badezimmer geputzt, die Toilette sorgsam geschrubbt. Als er den Spülknopf betätigte, bemerkte er, dass das Wasser nicht wie gewöhnlich floss. Tassilo schraubte den Spülkastendeckel ab. Was er darin sah, verschlug ihm den Atem. Inmitten des Spülkastens lag ein Bündel, umwickelt in einer Plastiktüte und mit einem Schnürsenkel verknotet.
Wider besseres Wissen hatte Tassilo das Paket aus dem Spülkasten genommen und es geöffnet. In der Plastiktüte war ein zusammengerolltes Handtuch. Tassilo schlug es auf. Zutage trat ein Microhydrator, die Waffe eines Kopfgeldjägers.
Nun, ein Tag später, stand Tassilo im Restaurant und traute sich kaum den Passagier anzuschauen, der dort bequem bei einer Tasse Kaffee saß, die Beine übereinandergeschlagen. Der helle Sommeranzug aus beigem Mohair stand ihm gut. Die Wildlederschuhe passten hervorragend dazu. In beiden steckte ein Schnürsenkel. Tassilo hob den Blick und stellte erschrocken fest, wie der Passagier zu ihm sah.
Wusste der Mann etwa, was Tassilo gesehen, eilig, aber mit größter Sorgfalt zurück in den Spülkasten gelegt hatte? Verlegen schlug er die Augen nieder. Der Passagier winkte ihn zu sich. Tassilos Herz raste. Der Passagier lächelte freundlich. Er wolle frühstücken, sagte er. Tassilo nahm stumm die Bestellung entgegen. Bei den wenigen Schritten zur Küche war ihm schwindelig. Da kam ihm ein Gedanke. Seinen Schichtpartner Amon bat er, ihn kurz zu vertreten und dem Gast das Frühstück zu bringen. Amon nickte.
Wenig später stand Tassilo vor der Kabinentür des Passagiers. Der Flur war menschenleer. Die meisten Gäste schliefen noch. Mit dem Generalschlüssel verschaffte sich Tassilo Zutritt. Es war wie am Vortag, der Raum sauber, ordentlich und zugleich eine beklemmende Präsenz spürbar, als wäre der Tod zugegen.
Im Spülkasten lag die unheilvolle Plastiktüte. Tassilo nahm sie an sich. Sie wog deutlich schwerer als gestern, oder täuschte er sich? Er überlegte, ob es die Schuld war, die von dem Inhalt ausging. Tassilo griff in die Tüte. Er würde die Waffe unbrauchbar machen.
Doch sie war fort.
Tassilo erschrak.
In dem entrollten Handtuch lag ein faustgroßes, schrumpeliges Wesen. Obwohl es mehr Ähnlichkeit mit einem Fossil hatte, erkannte Tassilo, was es war. Ein kleiner, vertrockneter Mensch.
Tassilo ließ die geschrumpfte Mumie fallen. Sie krachte wie ein Stein zu Boden und zerbrach.
„Das war ein Fehler“, sagte eine Stimme. Tassilo wirbelte herum. Der Passagier stand im Raum, in seiner Hand die Waffe.
Der Microhydrator surrte. Ein gelbes Licht blitzte auf. Tassilo spürte sofort ein grauenhaftes Ziehen in seinen Gelenken, Schmerzen in den Augen, in den Eingeweiden, in den Muskeln und einen gewaltigen Durst. Er wollte schreien, aber seine Kehle war ausgetrocknet. Er sah, wie alles um ihn herum in die Höhe schoss und er schrumpfte. Von seinem Körper glitt die Kleidung. Er sah seine Haut runzelig werden. Tassilo krächzte. Es wurde dunkel um ihn. Das gelbe Licht schmolz zu einem kleinen Punkt.
Dann war plötzlich alles schwarz.
Am folgenden Tag herrschte Aufregung auf dem Luftschiff. Ausgehend vom Personal, die einen Gast und einen Angestellten vermissten, verbreitete sich auch unter den Reisenden die beunruhigende Nachricht. Die Crew durchsuchte alle Kabinen. Man fand nichts.
Am Abend erreichte die Galant den Luftschiffhafen von Kis Kematian. Dort warteten Beamte der benachrichtigten Schutzwacht. Sie befragten alle Passagiere, so auch den schönen Reisenden.
Er sei untröstlich, sagte er. Er habe weder etwas gesehen noch bemerkt. Man dankte ihm für seine Zeit und ließ ihn gehen.

Niko Kreische (45) ist in Berlin geboren und der Stadt treu verbunden. Er hat Skandinavistik und Neuere und Neuste Geschichte an der Humboldt Universität zu Berlin studiert. Er arbeitet als Projekt- und Schulungsleiter in der IT-Gesundheitsbranche. Seit seiner frühen Jugend fertigt er Comics und Illustrationsarbeiten an. Er ist der Begründer einer erfolgreichen Schreibgruppe und Mitglied eines Bücherclubs, welcher sich vorrangig mit der Literatur der Weimarer Republik auseinandersetzt. Aktuell bereitet er die Veröffentlichung des Science-Fantasy-Romans “Das Atoll” vor.
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