Im Zug

Kristiane Kondrat für #kkl51 „Passagier“




Im Zug

In dem Buch, das ich lese, ist gerade der Erste Weltkrieg ausgebrochen, und ein junger Mann nimmt Abschied von seiner Mutter. Ich weiß noch nicht, ob er aus dem Krieg zurückkehren wird.

   Draußen, hinter dem Waggon-Fenster, zieht eine friedliche Landschaft vorbei, mit Wiesen, Wäldern, Zäunen und Häusern, der Erste Weltkrieg ist schon lange beendet, auch der Zweite, und jene dort in meinem Buch sind alle schon lange tot. Auch jene, die aus dem Krieg zurückgekehrt sind. Die sind eines natürlichen Todes gestorben oder an der Schwindsucht oder an der Syphilis oder sie sind von einem Gerüst gestürzt und haben sich das Genick gebrochen oder der sie haben sich von der Brücke gestürzt und sind im Fluss ertrunken.

   Warum eigentlich mache ich mir Sorgen um den fremden jungen Mann im Buch, warum frage ich mich, ob er aus dem Krieg zurückkehren wird, wenn sowieso alle schon lange tot sind, alle, die in diesem Buch noch leben, lachen, sich streiten, saufen und auf irgendetwas hoffen?

   Übrigens, der junge Mann im Buch wird unversehrt aus dem Krieg heimkehren und wird dann, über die Jahre, zum Trinker und schließlich am Alkohol zugrunde gehen. Das werde ich  aber später erfahren, mit einer Verspätung von zwei Wochen, in einem anderen Zug, auf meiner Heimreise.

   Zwei Wochen, nachdem der junge Mann in den Krieg gezogen ist, sitze ich wieder im Zug, der aber jetzt in die entgegengesetzte Richtung fährt, als jener damals, als der Erste Weltkrieg gerade ausgebrochen und der junge Mann in den Krieg gezogen war.  

   Ich sitze allein im Abteil, sehe zum Fenster hinaus und denke an Leo, der jetzt gewiss darauf wartet, dass ich anrufe. Ich hatte es versprochen. Dummerweise habe ich mein Handy

zu Hause liegen gelassen. Wollte es einstecken, hatte es neben die Handtasche auf den Wohnzimmertisch gelegt. Dort ist es liegen geblieben.    

   Jetzt wartet Leo vergeblich auf meinen Anruf, und ich muss mir die Sätze zurechtlegen, um seine Vorwürfe zu parieren. Das nimmt mich so in Anspruch, dass ich nicht mehr darauf achte, an welchen Bahnhöfen wir vorbeifahren und wie die nächste Station heißt. Mein Buch ruht noch in der Handtasche. Ich nehme die Zeitung, die ich mir vor der Abfahrt am Bahnhof gekauft habe, und will darin lesen. Bin müde. Kann nur noch das Fettgedruckte wahrnehmen, überfliege die Titel: “Neuer Terroranschlag in London, Eine Rakete im Nahen Osten, Russischer Präsident droht…«. Weiter komme ich nicht, bei “droht” nicke ich ein.

   Der plötzliche Ruck überrascht mich im Schlummer. Er schleudert mich nach vorne auf den Sitz gegenüber. Ich fange mich mit den Unterarmen auf. Trotzdem stoße ich mit dem Kopf an die Wand. Höre aus den Nachbar-Abteilen Koffer fallen und auf den Boden schlagen, Schiebetüren auf und zu. Schreie auf dem Flur. Der Zug ist stehen geblieben. Von einer Sekunde auf die andere. Eine Frauenstimme kreischt: “Jemand hat die Notbremse gezogen!!” Ich gehe ans  Waggon-Fenster und schaue hinaus. Die Leute stürmen alle aus dem Zug. Ich steige aus. Habe heftige Kopfschmerzen.

   Draußen ein kleiner Bahnhof. Sogar ein klitzekleiner.  Aber emsig. Es wimmelt auf den Bahnsteigen. Es wimmelt viel zu sehr für so einen kleinen Bahnhof. Der ist herausgeputzt und geschmückt. Überall Blumengirlanden. Am Gleis nebenan ein ebenfalls mit Blumen geschmückter Zug, aus dessen Fenstern fröhliche, junge Köpfe lachen. Man hört singen.

   Am Bahnsteig  Abschiednehmen. Umarmungen. Nicht traurig. Nein. Voller Fröhlichkeit und Jubel. Ein Festtag. Sieht nicht aus wie nach einer Notbremsung. Und die Leute sind irgendwie seltsam gekleidet. So als hätten sie sich verkleidet. Irgendetwas stimmt hier nicht.

   Ein Mann und eine Frau, ich sehe sie nur von hinten. Als er sich aus der Umarmung löst und federnd auf einen der geschmückten Waggons zugeht, erkenne ich es an seinem Gang,

dass er noch sehr jung ist. Ich lasse ihn nicht aus den Augen. Er verschwindet im Waggon und erscheint an einem Fenster. Ein keckes, fröhliches Gesicht. Er erinnert mich an

jemanden. Den Burschen habe ich schon einmal irgendwo gesehen. Ich behalte ihn weiterhin im Auge.           

Der Bursche hat meinen Blick aufgefangen und lächelt mich an. Hat gemerkt, dass ich ihn anstarre, und ich schäme mich. Er aber ist fröhlich, winkt mir zu und schickt mir Kuss-Händchen. Sein Gesicht strahlt, die anderen Gesichter in den Fenstern strahlen auch. Dann  fährt der Zug langsam an. Mit dem Singen der Burschen. Auf dem Bahnsteig spielt die Blaskapelle.

   Ich gehe zu meinem Zug, der auch bald abfährt. Nehme mein Buch aus der Handtasche und lese da weiter, wo ich vor zwei Wochen aufgehört habe.

   Später, viel später werde ich erfahren, dass an jenem Tag, in jenem Bahnhof ein Spielfilm gedreht wurde. Der Zugführer des Zugs, in dem ich damals saß, war nicht informiert worden und musste notbremsen.





Der Zug nach Orawitz

Ein Tier hat Elektrizität gefressen und ist vielgeladen, viel Energie, alles viel. Ein Hundehalter aber verschiebt einen seiner Mundwinkel nach unten, um clever zu wirken. Alles am Bahnhof. Die Wege liegen übereinander am Bahnhof. Jedes Gleis eine Etage. Jemand hat mir den Weg unter den Füßen weggezogen, den Bahnsteig unter den Sohlen, und der Halter mit Hund und die ganze Elektrizität erschweren meine Suche, meinen staunenden, meinen sehr staunenden Überblick.

   Ein Haus, das ich kenne, finde ich nicht mehr. Dass ich es kenne, hilft mir nicht, das Haus gibt es nicht mehr oder es gibt es noch, aber da müsste ich einen Zug nehmen. Nach Orawitz müsste ich fahren. Da wohnt meine Großtante, die kennt das Haus.

   Ich drücke auf den grünen Knopf und und tippe Orawitz ein. Der Automat will mir keine Fahrkarte nach Orawitz aushändigen, ausspucken, aus, aus, aus, viel aus will er nicht. Er fragt mich, ob ich Marmelade brauche, ich möchte keine Marmelade, ich möchte eine Fahrkarte nach Orawitz. Warum? Fragt der Automat, Das gehe ihn nichts an, antworte ich.

Das Haus kenne ich, alles andere habe ich vergessen. Der Automat fragt immer wieder warum, warum warum. Viel Warum. 

   Die Oberleitungen der Züge, die gibt es an diesem Tag wieder, diese Oberleitungen sind mit Energie geladen. Alles ist vollgeladen, voll, voll, voll. Viel voll.

   Die Kreuzungen stehen nicht im Fahrplan. Der Automat fragt mich, ob ich wisse, wo ich jetzt sei. Wo ich jetzt. Ich. Ich sage ihm die Wahrheit. Was ein Fehler ist. Automaten soll man nie die Wahrheit sagen. Ich sage ihm, ich wisse nicht, wo ich sei. Es komme immer wieder ein rot gestrichenes Haus vorbei, sage ich ihm, da wohnen Leute, die ich nicht kenne. Ich sei jetzt hier, sage ich, aber ich möchte fort. Ich möchte nach Orawitz. Der Automat fragt mich nach meiner Telefonnummer, ich sage, die ginge ihn nichts an. Ich solle dennoch die Ziffern über

die Tastatur eingeben.Über welche Tastatur, frage ich, über seine oder über meine. Er antwortet nicht. Obwohl er sonst  recht gesprächig ist. Zu viel gesprächig für einen Automaten. Ich gebe die Ziffern über meine Tastatur ein. Der Automat hat nur eine Tastatur mit Buchstaben, ich aber eine mit Ziffern. Und mit Buchstaben. Beide nutzen mir nichts, es

wird nicht darauf reagiert. Der Automat rückt mit einem lauten Ruck eine Tastatur mit Ziffern heraus. Ich gebe Ziffern ein, er solle sich die Reihenfolge zusammenstellen, sage ich. Die könne er kombinieren, wie er es benötige, sage ich. Will weiter delegieren. Will viel weiter delegieren.

  Der Automat versucht verschiedene Kombinationen aus, ich muss zugeben, er kommt mir entgegen. Dann sagt er: »Diese Nummer ist nicht vergeben oder ausgeschaltet, versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt«.

   Ich wende mich ab vom Automaten und gehe auf Gleis 1 zu. Weil da ein Zug steht. Die anderen Bahnsteige stellen sich senkrecht auf, das heißt, sie sind nicht vergeben, nur der eine. Gleis Eins, das muss der Zug nach Oralwitz sein.

   Ich steige ein in den Zug. Jetzt bin ich da. In meinem Zug. Sitze und schaue zum Fenster hinaus. Schaue viel zum Fenster hinaus, der Zug ist schon unterwegs. Viel Landschaft auf dem Bildschirm..

   Der Zug muss angefahren sein, sobald ich eingestiegen bin. Fuhr los, sobald ich im Gehäuse saß .Der hatte auf mich gewartet. Mein Fensterplatz war auch schon da.

  Jetzt bin ich eingeschlossen.  Am Schnürchen gezogen die Landschaft. Immer vorbei. Der dicke Baum soeben vorbei, die Dächer sind schon seit zwei Minuten vorbei, gefühlte zwei Minuten. Schnur-mir-nichts-schnur-dir nichts zieht alles vorbei unterwegs nach Orawitz. Viel

vorbei. Früher kannte ich jeden Baum auf dieser Strecke, jetzt gibt es nur Bäume, die ich nicht kenne. Die Hecken, viel Wiese, viel Gras. Ein Dorf mit Kirche, dann eine Siedlung ohne

Kirche. Ein Einödhof. Dann Felsen, Hügel, Und der erste See. Dann der zweite See. Dann weite Seen, die ich noch nie gesehen habe.

   Die Landschaft wird immer schöner und immer fremder. Eine Landschaft, zu der eine ergreifende Hintergrundmusik passen könnte. Berge mit weißen Spitzen und scharfen Kanten, ein violetter Himmel dahinter und darüber, eine schaurige Ruine, alles scharf gestochen. Die blauen Seen, viel zu blau. Bleibe mit den Augen am Fenster hängen, an den

bezaubernden Bildern, und eine kleine Angst springt mich an. Ganz klein am Anfang. Ich habe das Gefühl, ich fahre in die falsche Richtung. Der Zug wird schneller.

   Der Schaffner schiebt seine Mütze mit dem rechten Zeigefinger nach oben, als er eintritt. Um mich genau anschauen zu können. Ich bin der einzige Fahrgast in diesem Abteil, und er

muss mich sehen. Es ist seine Pflicht, die Fahrgäste zu sehen, Er fragt aber nicht nach meinem Fahrschein. Ich sehe vielleicht nicht so aus, als hätte ich keinen Fahrschein. Nein, ich sehe so aus, als führe ich in die falsche Richtung. Er weiß es, bevor ich es erfahre. Er schaut mich ausgiebig an und wartet, dass ich etwas sage. Ich sage auch etwas. Frage nach dem nächsten Bahnhof, und wann wir in Orawitz ankommen.

   Sie sind in den falschen Zu eingestiegen, sagt der Schaffner.

   Wann hält der Zug, wo ist der nächste Bahnhof? Frage ich.  

   Den nächsten Bahnhof erreichen wir in drei Stunden, das ist Chongqing, im westlichen China. Die Endhaltestelle ist Beijing. Aber Sie haben die Gelegenheit auszusteigen, sobald wir den nächsten Brunnen erreichen. Der Zug braucht Wasser. Der Heizer steigt aus und holt Wasser.

   Es ist eine Dampflok, eine Schnellzug-Dampflok mit Heizer. Eine andere, als jene, die abgefahren ist. Nicht elektrisch vollgeladen, nein, mit Kohle, mit glühender Kohle nach Beijing. Deshalb die fremden Landschaften im Fenster. Viel fremd. Der Schaffner entfernt

sich, wie er gekommen ist: Er hebt mit dem rechten Zeigefinger seine Mütze aus den Augen. Die war ihm  heruntergerutscht. Die Mütze.

   Ich hänge mit den Augen am Fenster. Bunte schöne Welt auf dem Bildschirm.

Inzwischen müssen wir eine Grenze passiert haben, denn es kommt ein anderer Schaffner ins Abteil. Mit einer anderen Mütze, die er jedoch mit dem linken Zeigefinger hochschiebt, ehe er mir ins Gesicht schauen kann. Mit einem süßsauren Lächeln, obwohl er eindeutig kein Chinese ist. Fehlzündungen von Feuerwerkskerzen zerplatzen hinter seinem Rücken. Ich weiß nicht , was hinter seinem Rücken geschieht. Nachdem er mir ins Gesicht geschaut hat, versteinert er zu einem Denkmal und muss von weiteren zwei Schaffnern abtransportiert werden. Vielleicht wird man ihn als Denkmal eines Schaffners verwerten. Einer, der noch kein chinesischer Schaffner ist, obwohl er eine blaue Uniform getragen hat. Ein Duplikat des Denkmals des unbekannten Schaffners.    

   Der Zug bleibt stehen. Ich stürze hinaus zu dem Brunnen am Brunnenbahnhof, Brunnen auf freiem Feld, nichts als ein Brunnen, ohne Automaten, nur eine Holzbank daneben, zum Sitzen am Brunnen, kein Tor, kein Eingang und kein Ausgang. Irgendwo zwischen Orawitz und Beijing. Der Heizer hat Wasser getankt und fährt weiter..    

   Nur ein Gleis. Von diesem Gleis fährt der Zug nach China ab. Wenn er dort ankommt, wird ein anderer in die andere Richtung, nach Orawitz fahren.

  Um den Brunnen rund herum: Gras. Auf dem Gras steht ein Mann, den ich erst jetzt sehe. Ich weiß nicht, seit wann er da steht. Vielleicht schon lange. Oder erst eben aus dem China-Zug ausgestiegen, wie ich. Er zeigt mit dem Finger in die Richtung, in die der Zug verschwunden ist, wendet sich mir zu und sagt:

   » Dahin sind alle gefahren, alle, die zu Ihnen gehören«.

   Ich schaue mich um, aber außer mir ist keiner da. Nur der fremde Mann und ich. Demnach wird er mich gemeint haben. Dass alle, die zu mir gehören, nach Beijing gefahren sind. »Ist vielleicht nicht weit,« sagt er, »dort«.

   Am Horizont, hinter dem der Zug verschwunden ist, sehe ich einen Turm. Müsste eine Ortschaft sein. Ob der Zug an diesem Ort gehalten hätte, weiß der fremde Mann auch nicht.

   »Ich brauche ein Ticket in die andere Richtung, nach Orawitz«, sage ich. Der Mann weiß nichts damit anzufangen, »Orawitz« sagt ihm nichts. »Lieber zurück als nach China«, sagt er. Ich höre seine Stimme, schaue mich um, er ist aber nicht mehr da. Der fremde Mann ist nicht mehr da. Ich aber kenne Orawitz, und das Haus steht irgendwo dort, ich weiß nicht, wie die Straße heißt.  Auf meiner Armbanduhr ist es 9,45 Uhr:  Die Uhrzeit meiner Abfahrt mit dem Zug aus dem ich gestiegen bin. Es muss ein anderer Tag  gewesen sein. Aber wo ist die Nacht dazwischen geblieben? Im Zug nach China war es immer nur Tag. Viel Tag. Keine Nacht. Jetzt müsste der Zug in China sein. Ich muss einen Zug finden, der nach Orawitz fährt. Ich muss




Kristiane Kondrat (Pseudonym), geb. am 11. Dez 1938 in Reschitz/Banater Bergland, Rumänien. Studium der Germanistik u .der Rumänistik in Temeswar, Kulturredakteurin bei der »Neuen Banater Zeitung«. Seit 1973 in Deutschland, als freiberufliche Journalistin  (Kultur) für die SZ tätig, liter. Veröff. in: Literaturzeitschriften in Dtl., Österr. und der Schweiz, Anthologien, Beiträge im BR (Hörfunk, Bayern2, Literatur).

Eigenständige Veröffentlichungen (Auswahl):

»Regenbogen«, Gedichte, Jugendverlag Bukarest 1968

Abstufung dreer Nuancen von Grau“, Roman, 1997, Quell Verlag, Stuttgart

„Anastasius und andere Staatsbürger“, Satiren, 2013, Pop Verlag, Ludwigsburg

„Ein großer Buchstabe fällt von der Wand“, Gedichte, 2014, Pop Verlag.Ludwigsburg

 „Abstufung dreier Nuancen von Grau“, 2. Auflage, 2019,  danube books Verlag, Ulm

»Bild mit Sprung, Erzählungen«, 2. Auflage, danube books Verlag, 2021

Ebenfalls im  »danube books Verlag:« Lyrikbuch »Wer tanzt im Niemandsland?«, März 2023.

Preise und Ehrungen:

Förderpreis für Lyrik 2011 der Cité der Friedenskulturen (Lugano)

Bei den Finalisten des Literaturwettbewerbs für politische Lyrik  2009, lauter niemand, Berlin

Bei den Finalisten des 20. Münchner Kurzgeschichten-Wettbewerbs 2016

»Grenzgänger – Grenzgänge«

Publikumspreis für Lyrik der Zeitschrift „Spiegelungen“, 2017, München

Nominierung für den Meraner Lyrikpreis 2022

Interview für den #kkl-Kanal HIER







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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