Der Nachtzug 

Lucca Bennett Thöne für #kkl51 „Passagier“




Der Nachtzug 

Ein kleiner Junge steht staunend vor einer bronzenen Statue. Die Statue stellt einen Mann dar, der mit ausgebreiteten Armen dasteht. Die Statue erinnert an das Leben dieses Mannes. An alles, was er geleistet und erreicht hat. Sein Lebenswerk. Sein Vermächtnis. Er hat seiner Familie Wohlstand gebracht und der Welt einen Mehrwert. Dieser Mann hat Berge versetzt. Kurz darauf ruft die Mutter des Jungen: „Komm jetzt. Du sollst nicht immer so viel trödeln.” Gehorsam wendet er sich von der Statue ab und folgt seiner Mutter…

„Alle einsteigen!”, heißt es am Bahnhof. Elian Lichtner steht vollbepackt auf dem Bahnsteig. Mit einem Grinsen und noch etwas grün hinter den Ohren wartet er darauf, dass das Abenteuer beginnt. Ein gewaltiger Luftzug weht vorbei als der Zug einfährt. Elian steigt ein und setzt sich auf seinen Platz. Seine Anweisungen sind klar: Er soll im Zug bleiben und bis zur letzten Station mitfahren. Während der Fahrt soll er sich auf die Arbeit konzentrieren und nicht von seinem Weg abkommen. Also fängt er an zu arbeiten. Sein Chef hat ihm einen Auftrag gegeben, den er so schnell wie möglich erledigen soll. Obwohl ihm die Arbeit seit einiger Zeit nicht mehr besonders erfüllt, tut er, was ihm gesagt wird. Elian würde gerne eine eigene Firma gründen und etwas in der Welt bewegen, aber das Risiko ist ihm zu groß. Lieber den sicheren Weg. Den vorgezeichneten. Als Angestellter mit einem Chef. Der erste Halt steht an. Die Türen öffnen sich. Menschen steigen aus dem Zug, Menschen steigen in den Zug. Die Türen schließen sich und der Zug nimmt wieder die Fahrt auf. Um Elian herum diskutieren Paare, streiten sich Eltern und rangeln Geschwister. Stimmen klingen durcheinander. Ein lebendiges Umfeld. Der Alltag eben. Elian wird angerempelt. Er nimmt seine Umgebung wahr, doch Elian versucht sich nicht ablenken zu lassen. Alles auszublenden. Sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Er hat seine Anweisungen. Es dauert eine Weile bis der Zug wieder anhält. Die Türen öffnen sich. Menschen gehen, Menschen kommen. So weit, so normal bei diesem Halt. Doch wer ist das? Ein blaues Kleid, eine weiße Tasche und eine Sonnenbrille. Sie gleitet förmlich durch den Gang und setzt sich vor ihn. Eine fremde Frau, die zugestiegen ist. Ihre blauen Augen schauen ihn an. Ihre Lippen sind mit knallrotem Lippenstift bedeckt und sie lächelt. Noch ignoriert er sie, aber dann. Dann spricht sie ihn an. Die beiden kommen ins Gespräch. Ihr Name ist Sunniva. Anfangs kann Elian den Blickkontakt nicht lange halten. Doch mit der Zeit fühlt er sich in der ungeplanten Situation immer wohler und öffnet sich der unbekannten, aber charmanten Frau. „Was machst du so beruflich?”, fragt Elian. „Bisher habe ich als Verkäuferin in einer Boutique gearbeitet. Allerdings war es schon immer mein Traum, Modedesignerin zu werden. Jetzt habe ich auch genug Geld und den Mut gefasst meinen Traum in die Tat umzusetzen.” ‚Faszinierend‘, denkt er sich. Elian unterhält sich lange mit Sunniva. Sie verbringen einige Zeit miteinander. Jedoch auch sie steigt irgendwann aus. Der Zug hält wieder. „Ich muss hier raus. Möchtest du nicht mitkommen?”, fragt sie mit einem einladenden Lächeln. „Oh, schade. Nein, ich muss hierbleiben.”, antwortet Elian. „Okay, wo willst du denn hin?” „Ähm, ich weiß nicht genau.” Dann fällt ihm wieder ein, was ihm gesagt wurde. „Bis zum Ende. Genau, bis zum Ende.” Ihr Gesichtsausdruck verändert sich. Sie schaut etwas verwirrt. „Okay… Dann auf Wiedersehen.” Sie wendet sich ab und verlässt den Zug. „Wiedersehen.” Elian ist überrascht von dem Verhalten der Frau. Was hat das zu bedeuten? Es war eine versteckte Botschaft. Allerdings kann er dieses Zeichen noch nicht verstehen oder deuten. Etwas traurig, aber weiterhin entschlossen von seiner Reise bleibt Elian auf seinem Platz sitzen und arbeitet vertieft weiter an seinem Laptop weiter. Der Tag neigt sich langsam dem Ende zu. Elian wird müde. Nicht mehr lange, dann gelangt der Zug am Ende an. Elian ist fertig. Erschöpft klappt er den Laptop zu. Der Zug hält noch einmal an und bleibt für eine längere Zeit stehen, bevor dieser schlussendlich ans Ziel gelangt. Jetzt verlässt auch Elian mal den Zug. Das hatte er bisher nie in Erwägung gezogen. Deswegen fühlt er sich damit auch nicht ganz so wohl, aber Sunniva hat ihn ermutigt. Es dämmert am Bahnhof und es weht eine leichte Brise. Er geht in eine kleine Siedlung an deren Rand der Bahnhof ist. Innovative Technik und modernes Design zeichnen den Ort aus. Das Motto der Stadt ist zukunftsorientiertes Leben. In diesem Dorf hängen Schilder mit Sprüchen und Zitaten, die den Ort repräsentieren. Auf einem steht: „Die Vergangenheit ist vergangen, aber die Zukunft ist noch nicht geschrieben.” Auf einem anderen steht: „Die Verantwortung für deine Zukunft liegt in deinen Händen.“ Bei diesem Zitat bleibt Elian hängen. Er kommt ins Grübeln. Langsam stellt er seine Vergangenheit in Frage. ‚War das schon alles? Ist das der einzige Sinn meines Lebens? ’ Plötzlich grätscht ein lautes Hupen in seine Überlegungen. „DER NACHTZUG. Verdammt!” Er verwirft die Gedanken erstmal wieder. Elian sprintet los. Der Nachtzug fährt jeden Moment ab. Die Menschen tummeln sich auf den Bahnsteigen. Elian zwängt sich hindurch. Gerade noch geschafft. Gerade so an Bord. Er setzt sich wieder auf seinem Platz. Bereit für das letzte Stück. Plötzlich steigt noch ein kleiner Junge dazu. Dieser setzt sich wieder vor ihn. Elian schaut sich verwirrt um. Nach kurzer Zeit fragt Elian: „Hey, bist du ganz allein?” „Ja, ich bin von zu Hause weggelaufen. Ich will nicht, dass man mich ins Mathe-Internat schickt. Nur weil meine Eltern auch dort waren. Ich will nicht, dass andere über mein Leben bestimmen. Es ist meins und somit entscheide ich darüber. Ich will das Steuer in der Hand haben.” Seine rebellische Art bringt frischen Wind in Elians Geist. Ganz schön reif für ein Kind, findet er. Doch vor allem seine nächsten Worte brennen sich in Elians Gedächtnis ein. „Ich will nicht einfach nur ein Passagier sein. Ich will der Lokführer meines eigenen Zuges sein!” Diese Aussage trifft Elian, wie eine weitere Eingebung. Ein weiterer Prophet öffnet ihm die Augen. Ihm wird etwas klar: ‚Es ist MEIN Leben! ICH HABE DIE WAHL! ’ Er nimmt alles, was er greifen kann und springt auf. „Danke!” Elian sprintet zur Tür. Diese beginnt sich zu schließen. Das wird knapp. Ungeahnte Kräfte setzen sich frei. Durch den kleinen Spalt der sich schließenden Tür hindurch und er ist wieder draußen. Ein tiefer Atemzug. Er blickt nach oben. Die Sterne erleuchten den orange-violetten Himmel. Ein Sonnenuntergang wie gemalt. Endlich Freiheit? Er dreht sich langsam um. Der Nachtzug fährt ab. Da hätte er drin sein SOLLEN. Doch Elian hat sich anders entschieden. Er macht es jetzt anders. So hätte das eintönige Abenteuer enden sollen. Das Abenteuer namens LEBEN. Aber noch nicht jetzt. Er hat noch etwas vor! 

Nach langer Zeit geht Elian abgearbeitet, aber zufrieden zu seinem großen Haus. Davor steht eine Statue. 

Es ist die Statue des Mannes mit den ausgebreiteten Armen. Es ist seine. Er hat es geschafft!





Lucca Bennett Thöne wurde am 18. Januar 2005 in Lippstadt geboren. Nach dem bestandenen Abitur zog er nach Berlin und studiert dort zurzeit “Kreatives Schreiben & Texten” an der SRH Berlin. Im Rahmen seines Studiums schrieb er die Kurzgeschichte “Der Nachtzug”. Er strebt eine Karriere als Drehbuchautor an, da er den Film für das perfekte Medium hält, um eine fesselnde Geschichte zu erzählen und den Zuschauer auf eine Reise in eine andere Welt mitzunehmen, damit er seiner eigenen für einen Moment entfliehen kann.

E-Mail: Luccathoene@gmail.com








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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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