Astrid Hammerthaler für #kkl51 „Passagier“
Mit allen Sinnen
In einiger Entfernung steht ein Mädchen in einem dicken, beigefarbenen Anorak an der seitlichen Reling. Sie wendet sich in Fahrtrichtung und legt genussvoll ihr Gesicht in den starken Gegenwind. Ihre langen dunklen Locken werden davon immer wieder wie eine einheitliche Masse nach oben gehoben und fallen gelassen.
Mal lacht das Mädchen, mal formen sich ihre Lippen zu einem „O“. Genüsslich schließt sie die Augen oder hat sie halb geöffnet.
Ich beobachte das Mädchen schon eine Weile. Sie scheint unermüdlich darin, die Situation lustvoll aufzunehmen.
Durch Passagiere, die sich zwischen uns aufhalten, kann ich nicht sehen, ob jemand bei ihr ist. Eine Mutter oder ein Vater müsste es sein. Sie ist zu jung, um allein zu reisen.
Jetzt scheint sie zu singen. Ich kann sie nicht hören, denn der Motor der gewaltigen Fähre übertönt zarte Klänge. Jedoch bewegt sich ihr Mund, und ihr fröhlich-entrücktes Gesicht könnte ein Hinweis darauf sein.
Der Verdacht scheint sich zu bestätigen, denn sie wiegt sich alsbald in ihrem Körper. Obendrein schwingt sie rhythmisch die Arme vor und zurück.
Es könnte eine geistige Behinderung bei dem Kind, das schon bald eine Frau sein wird, vorliegen.
Sofort schäme ich mich für den Gedanken.
Es liegt keine geistige Behinderung sondern eher eine geistige Überlegenheit vor. Wer so mit allen Sinnen das Leben und den Gegenwind zu nehmen weiß, kann nur Vorbild sein.
Als hätte sie meinen Gedanken aufgenommen, schaut sie mich nun fragend an.
Dann wirft sie mir ein freudiges Lachen entgegen.
Astrid Hammerthaler, geb. in Wasserburg am Inn, lebt in München. Schreibt, fotografiert und ist als Sozialpädagogin tätig.
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