Willkommen an Board…

Maike Bartel für #kkl51 „Passagier“




Der Passagier

“Willkommen an Board. Willkommen an Board. Willkommen an Board.” wiederhole ich am laufenden Band. Mit eingefrorenem Lächeln begrüße ich die Passagiere der Crystal Cruise die gerade ihre zweiwöchige Luxuskreuzfahrt antreten. Unmengen an Menschen rauschen an mir vorbei und ihre Gesichter verschwimmen zu einem einzigen großen hautfarbenen Meer vor meinem inneren Auge. Meine Ohren dröhnen von all dem Gewusel und Kindergeschrei. So hatte ich mir meinen Ferienjob auf einem Kreuzfahrtschiff eigentlich nicht vorgestellt.

Ich zucke zusammen, als das Schiffshorn lautstark das Ablegen ankündigt. Ich löse meine Hände aus der unangenehmen Verkrampfung hinter meinem Rücken, massiere leicht meine Fingerknöchel und schüttele meine Hände aus. Meinen Rücken drücke ich durch und versuche ihn etwas zu lockern, da er durch die fromme Begrüßungshaltung steif geworden war. Verstohlen schaue ich zu den anderen Angestellten. Sie unterhalten sich in kleinen Grüppchen und scheinen das alles deutlich besser wegzustecken als ich. Kein Wunder, ich bin schließlich nur die Aushilfskellnerin, für die das alles Neuland ist. Alle anderen sind bereits ein eingeschweißtes Team. Nervös kribbele ich mit meinem Daumen an einem Hautfetzen, der sich um meinen Fingernagel gelöst hatte. Ich starre weiterhin auf die anderen. Ich mag keine neuen Menschen. Allein bei dem Gedanken mich bei ihnen vorzustellen, hämmert mein Herz gegen meine Brust. Mit gesenktem Kopf wende ich mich von den anderen ab. Ich werde die kommenden zwei Wochen auch ohne andere Gesellschaft verbringen können.

Nachdem ich mich in meiner Kajüte eingerichtet habe, werfe ich ein Blick auf die Uhr. Ich muss noch meine Medikamente nehmen, bevor ich in zwei Stunden meine erste Schicht antreten werde. Das ist noch genug Zeit, um ein wenig über das Oberdeck zu spazieren und mich mit meiner neuen Umgebung vertraut zu machen.

Ich suche mir ein schattiges Plätzchen und lasse meinen Blick schweifen. Ich atme tief die frische und salzige Meeresluft ein. Der Tag neigt sich langsam dem Ende zu und taucht das Deck in golden-schimmerndes Licht. Daran könnte ich mich gewöhnen. Der Trubel von vorhin hat auch schon deutlich nachgelassen. Die Familien und Pärchen sind mittlerweile in ihrer entspannten Urlaubsstimmung angekommen. Entweder genießen sie die restlichen Sonnenstrahlen, schlendern über das Deck, bewundern die Aussicht des unendlichen Ozeans, der sich vor uns bis zum Horizont erstreckt oder machen schon die ersten Bilder für das neue Urlaubs-Familienalbum. Alles scheint an Ort und Stelle. Bis mir ein älterer Mann ins Auge fällt. Er trägt eine Beige Hose, ein dunkel-grünes Hemd und eine Runde Brille mit gold-bronzener Fassung. Ebenso hat er einen dunkel-braunen Fischerhut auf dem Kopf. Abseits von allen anderen hält er sich an der Reling fest. Nein, er hält sich nicht nur fest, er klammert sich daran. Da ist wohl jemand nicht Seefest. Er wirkt abwesend. Immer wieder starrt er aufs Wasser. Sein Blick huscht nervös hin und her. Ich beobachtete ihn eine Zeit lang. Mittlerweile kann man einen atemberaubend schönen Sonnenuntergang beobachten. Alle anderen Passagiere bestaunen den Himmel, der wie mit Wasserfarben bunt bemalt ist. Nur der Fremde nicht. Er ist völlig unberührt. Doch bevor ich mir noch mehr Gedanken um ihn machen kann, piept meine Armbanduhr zweimal zur Erinnerung. Es ist Zeit zur Arbeit zu gehen.

Meine erste Schicht im Board Restaurant läuft gut. Über mir glitzern zahlreiche Kronleuchter wie Sterne am Nachthimmel. Auf dem Paket sind die Tische fein säuberlich angeordnet und mit Weinroten Tischdecken, passend zu den Stuhlpolstern, geschmückt. Kerzenlicht flackert leicht auf den Tischen und wirft die Gäste in ein wohlig warmes Licht. Es ist viel los und ich hetze von Tisch zu Tisch. Da wir uns auf einer Luxuskreuzfahrt befinden, sind die Passagiere zum Glück einigermaßen überschaubar. Nicht allzu viele Menschen konnten sich diese Reise leisten. Einige erkenne ich sogar von der Begrüßung heute Morgen wieder. Doch es gibt nur einen Passagier, der mir durch sein merkwürdiges Verhalten nachhaltig im Gedächtnis geblieben ist. Der Fremde von heute Nachmittag. Unbewusst halte ich Ausschau nach ihm. Doch er ist nicht zum Abendessen erschienen.

Am Abend liege ich noch lange wach und wälze mich hin und her.  Ich finde einfach keine Ruhe. Ständig mischt sich das Bild dieses Fremden in den Nebel meiner Gedanken.

Ich bin auf dem Oberdeck. Alles ist verzerrt und dunkel. Das Schiff schwankt bedrohlich hin und her. Es wütet ein heftiger Sturm auf dem offenen Meer. Ich wanke über das Deck. Der Wind ist ohrenbetäubend laut, zerrt an meinen Haaren und Kleidern. Dicke, fette Regentropfen erschweren mir die Sicht. Donner grollt und lässt mich erzittern. Ein Blitz erhellt das Deck. In dem Grellen Schein erkenne ich den Fremden Mann. Wie er an der Reling steht und mich erschrocken direkt ansieht.

Schweißgebadet schrecke ich auf. Ich streiche mir die nassen Perlen von der Stirn. Draußen ist es noch dunkel. Mit je zwei Fingern massiere ich mir meine pochenden Schläfen. Ich spüre noch immer die Hitze des Adrenalins in meinen Wangen. Sie glühen förmlich. Mein Herz pocht, meine Hände zittern, jeder Muskel in meinem Körper ist angespannt. Ich versuche ruhig zu atmen. Irgendetwas stimmt hier nicht… Das spürt ich bis tief in meine Knochen. Irgendwas hat es mit diesem Fremden auf sich.

Ich beschließe draußen etwas frische Luft zu schnappen, um meinen Kopf freizubekommen. Ich gehe aufs Oberdeck, der Schauplatz meines Albtraumes. Warum, weiß ich nicht genau. Vielleicht um mich zu vergewissern, dass es nur ein Traum war und hier in der Realität alles in Ordnung ist. Es ist menschenleer. Ich streife zwischen den Liegestühlen hindurch, bis ich eine Bewegung im Augenwinkel wahrnehme. Ich schrecke zurück und verstecke mich hinter einem Pfeiler. Vorsichtig spähe ich hervor in die Richtung, aus der die Bewegung gekommen war. Es dämmert bereits, wobei sich die Sonne hinter einer dicken Wolkendecke versteckt. Der neu begonnene Tag ist in tiefblaues Licht getaucht. Ich erkenne schemenhaft den Fremden älteren Mann. Er stapft an der Reling entlang. Verwirrt. Unsicher. Alleine. Ich kneife mir fest in den Oberarm, um sicher zu gehen, dass ich nicht wieder träume. Aber Nein. Ich bin wach. Und der Fremde steht an der Reling. Blickt aufs Wasser und… Ich traue meinen Augen nicht. Er klettert über die Reling “Nein!”, schreie ich und strecke meine Hand nach ihm aus, so als könnte ich aus dieser Entfernung ihn noch packen und zurückziehen. Doch zu spät. Schon ist er in die dunklen und kalten tiefen des Meeres verschwunden.

Ich hetze durch das Schiff. Mein Kopf puckert, mein Atmen geht schnell, meine Sicht ist verschwommen. Durchgeschwitzt erreiche ich die Kajüte des Kapitäns und hämmere gegen die Tür. Es dauert eine Weile, bis ich ihn aus dem Schlaf gerissen habe. Hektisch und ohne Atempause schildere ich ihm, was ich eben gesehen habe. Ich beschreibe ihm den Passagier genau und dass er mir gestern schon aufgefallen war. Der Kapitän nimmt meine beiden Schultern behutsam in seine Hände und redet ruhig auf mich ein. “Hören sie. Beruhigen sie sich. Ich erinnere mich an den Mann. Genau wie sie ihn beschrieben haben. Mit der gold-bronzenen runden Brille und dem Hut. Er ging nie ohne ihn raus. Es war ein Geschenk seiner Frau. Bevor sie… bevor sie krank wurde. Sie hatte Alzheimer. Die beiden machten ein letztes Mal eine Kreuzfahrt zu ihrem Hochzeitstag. An einem Abend stürmte es furchtbar. Alle Passagiere waren angewiesen in ihren Kajüten zu bleiben. Die Frau hatte aber einen ihrer Schübe. Er war ziemlich heftig. Sie irrte verwirrt draußen in dem Sturm hin und her. Ihr Mann bemerkte ihr verschwinden und suchte sie. Er fand sie schließlich auf dem Oberdeck, an der Reling. Der Sturm war so heftig, die Wellen Meterhoch. Als das Boot direkt in einer dieser gewaltigen Wellen reinfuhr, fiel sie von Bord. Ohne groß zu überlegen, hechtete ihr Mann hinterher. Das war ein Riesen Skandal damals…”

“Wieso damals? Ich verstehe das nicht. Ich habe es doch eben gerade erst gesehen!”

“Ich weiß nicht, was sie gesehen haben, aber dieser Vorfall ereignete sich vor 5 Jahren statt.”




Maike Bartel , 23 Jahre, in Berlin geboren und aufgewachsen. Studiere Kreatives Schreiben und Texten an der SRH – Hochschule der populären Künste.








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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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