Martin A. Völker für #kkl51 „Passagier“
Der Durchgang des Menschen
Menschen sind wie viele andere Tiere Höhlenwesen. Höhlen bieten Schutz vor Wetter und Verfolgung, sie dienen als Speicherorte für Vorräte, und ihre Wände werden zu bunten Projektionsflächen eigener Ziele und Wünsche. Je höhlenartiger eine Behausung, desto gemütlicher kann sie sein. Weiche Felle, duftende Hölzer, knisternde Feuer und tänzelnde Flammen tragen zur höhlenartigen Wohnlichkeit und zur überlebenswichtigen Wohligkeit bei. Bis heute leben Menschen in Höhlen, die sie selbst sind, weil sie im Denken immer wieder nach Höhlungen suchen, um die Vernunft, die ihnen von außen abverlangt wird, zu umgehen, zu unterwandern, zu hinterfragen. In diesen Höhlungen finden Menschen jene Geschichten wieder, welche sich die urtümlichen Vorfahren am Höhlenfeuer mit Händen und Füßen erzählt haben. In den mythischen, bildhaften Erzählungen, die aus den inneren Höhlungen hervorgeholt werden, treffen Menschen auf sich selbst, nämlich auf jede Menschenversion ihrer eigenen verzweigten Entwicklung. Die menschliche Wohligkeit speist sich aus dem sich wiederholenden Eintreten in das eigene Höhlensystem. Aus der psychoarchäologischen Seins- und Überlebensbedingung, sich selbst zu erforschen, ist jedoch die moderne Forderung „Erkenne dich selbst“ geworden. Sich selbst erkennen: Das gleicht der Betrachtung des eigenen Antlitzes auf der spiegelglatten Oberfläche eines stillen Bergsees, während die Selbsterforschung dich ermutigt, in diesen See hineinzuspringen und hinabzutauchen. Erforsche dich also, und lerne vorher schwimmen. Selbsterkenntnis verlangt dir Klarheit im Sinne einer Klärung und Ausscheidung des Unklaren ab. Dementgegen darfst du in der Selbsterforschung dem Trübschönen, dem Unscharfreizvollen und dem Untergründigerhabenen begegnen. Mag die Gesellschaft die Stilllegung deiner Schachtanlagen verlangen, so liegt es an dir, dein persönliches Montan- und Bergwesen weiterhin zu pflegen. Streng genommen ist die eigene Höhle, sind die Höhlungen unverlierbar. Was Immanuel Kant als „Ausgang des Menschen“ aus der Unmündigkeit nennt, womit der Vorgang der Aufklärung definiert wird, stellt eigentlich eine Flucht dar, die Flucht aus der eigenen Höhle, die stets dort sein wird, wohin der Mensch sich flüchtet. Diese Flucht kann nie ein erfolgreiches Aufgeklärtsein erreichen, weil die fliehenden, die migrantischen Menschen von Angst und Sorge getrieben werden, obwohl sie vom Guten und Schönen frei angezogen sein wollen. Menschen sind nicht gefangen in ihren Höhlen, sie haben sich in ihnen wohnlich eingerichtet, weshalb der „Ausgang des Menschen“ in vielfacher Weise Obdachlosigkeit hervorruft, die wiederum dazu führt, dass sich Menschen, von Wind und Wetter zermürbt, falschen Schutzheiligen an den Hals werfen. Um ebendies zu verhindern, darfst du es nicht zulassen, dass Menschen aus ihren Höhlen und Höhlungen vertrieben werden. Ermögliche stattdessen den „Durchgang des Menschen“, eröffne dir und deinen Mitmenschen die Passage zwischen innen und außen, ohne dass sie hier oder dort bleiben müssen. Der Durchgang schließt das Ankommen ein und eine Rückkehr nicht aus, und das zusammen bezeichnet jene Freiheit, die jede Aufklärung hervorbringen soll, wenn sie Mündigkeit meint, und die jede Aufklärung benötigt, um nachhaltig zu wirken. Aber in unseren Höhlen, so wird man einwenden, sehen wir bloß die flackernden Schatten der Dinge und nie die Dinge an sich. Daran stören sich Hinz und Kunz, die Götter werden wollen, um endlich klar zu sehen. Mit den vermeintlichen Schatten begnügen sich andere, die wissen, was es heißt, wenn Menschen danach streben, gottgleich zu sein. Das grelle Licht schmerzt in den Augen, und die wohltemperierte Dunkelheit bietet Erholung. Ideal wäre die Passage zwischen Lichtfolter und Dunkelhaft, also ein Dazwischen, das den Aufbruch nicht mit einem Abbruch aller bisherigen Beziehungen verwechselt, das kein Ankommen verlangt, um ans Ziel zu gelangen. Diese Passage bleibt das größte Rätsel der Menschheit, das täglich die Einladung ausspricht, es individuell zu lösen. Untrennbar verbunden sind Menschen mit ihrem und jedem Leben, was letztlich bedeutet, nicht allein den Eingang zur gewünschten Passage zu suchen, sondern dass Menschen lernen sollten und lernen dürfen, sich als Passagenwerk zu begreifen.

Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Dozent, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.
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