René Gröger für #kkl51 „Passagier“
Hagen
Schnell suchte sie die letzten Sachen zusammen: Rassel, Kuscheltiger, Schnuller, Wollmütze. Sie verstaute alles in der Ablage des Kinderwagens. Mit Jeremy übers Wochenende zu den Eltern fahren, war mit ihrem rostigen Golf schon ein Abenteuer – wie sollte das erst mit der Bahn werden? Seit das Auto der Schrottpresse zum Opfer gefallen war, blieb Margarete nur die Metro bis zum Hauptbahnhof. Ihre letzte Reise ohne Auto lag Jahre zurück. Damals war sie Studentin gewesen, hatte sich mit Kommilitoninnen in überfüllten Waggons die Füße platt gestanden, war von kichernden Teenagern angestarrt worden, hatte den Achselschweiß haariger Männer riechen müssen. Sie hatte sich damals geschworen, nie wieder Bahn zu fahren.
Von ihrem ersten Gehalt hatte sie sich den Golf gekauft. Keine Luxuskarosse, aber zweckmäßig. Spätestens seit Jeremy auf der Welt war, war das Auto unersetzlich. Doch das Alter zollte seinen Tribut und nun musste sie mit Blick auf das Zugticket feststellen, was sie im Grunde schon seit der Scheidung wusste: Dass sich manche Versprechen eben nicht dauerhaft aufrechterhalten ließen.
Sie schob den Kinderwagen durch das schmutzig-gelbe Licht der Metrostation. Der quietschende Fahrstuhl trug sie rasselnd hinab in das Labyrinth der Schächte, aus deren Schlund ihr der stinkende Atem von Millionen Menschen ins Gesicht blies und grob am Mantel zerrte. In der U-Bahn versuchte sie durch den Mund zu atmen und hielt ihren Blick schützend auf Jeremy gerichtet, während die Metro sie ratternd bis zum Hauptbahnhof schüttelte.
Die Türen öffneten sich fiepsend, die Fahrgäste wurden auf die schäbigen Fliesen des Bahnsteigs gespuckt. Margarete drängelte sich ihren Weg mit Jeremy quer durch das dichte Gewusel zu den Fernzügen.
Zu ihrer Freude erkannte sie, dass ihre Bahn bereits eingefahren war. Zielstrebig ging sie in Richtung des reservierten Abteils. Ein freundlicher Schaffner half ihr dabei, den Kinderwagen in den Zug zu heben. Jeremy schwebte für einen Moment wie ein kleiner Prinz in der Luft, vom demütigen Volk auf Händen getragen. Der Kinderwagen passte gerade so auf den schmalen Gang und Margarete bugsierte ihn mit etwas Mühe in das Abteil. Ein kurzer Blick auf die Platznummern zeigte ihr, dass sie richtig saß, und nachdem sie Jeremy ein kleines Bett neben sich hergerichtet hatte, lehnte sie sich entspannt im Sitz zurück. Es schien doch alles reibungsloser zu laufen als befürchtet.
Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Statt der Stadt zogen nun Maisfelder und Heidelandschaften am Fenster vorbei. Das leichte Vibrieren beruhigte Jeremy, schnell entschlummerte er. Auch Margarete fielen die Augen zu, als sie plötzlich ein lautes Räuspern aus den Träumen riss.
„Entschuldigen Sie, aber hier muss ein Irrtum vorliegen“, hörte sie eine tiefe Stimme.
Ein Mann stand im Abteil. Der schwarze Anzug spannte eng über dem kräftigen Oberkörper.
„Dies ist mein Platz. Ich habe ihn reserviert. Sie sind offensichtlich im falschen Abteil.“
Schuldbewusst griff Margarete in ihre Handtasche und suchte hektisch nach dem Bahnticket.
„Hier steht es schwarz auf weiß“, sagte der Mann bestimmt und hatte bereits seine Reisetasche, wie zur Betonung einer gewichtigen Tatsache, auf dem Boden abgestellt. In seinem ledrigen Gesicht, dem die Natur die Züge eines Drachen gegeben hatte, entstand der abscheulichste Furor. Die Nasenflügel blähten sich und die Mundwinkel zuckten garstig.
„Abteil G, Sitzplatz 69. Bis Hagen reserviert.“
Er wedelte mit dem Ticket. Seine herrische Art schüchterte Margarete ein. Sie musterte seine Fahrkarte, schaute auf ihr eigenes Billett – Abteil und Sitzplatz waren tatsächlich identisch. Sie hätte gern einen Schaffner um Rat gefragt, doch der höfliche Herr von vorhin war nirgends zu sehen.
Der Mann wurde ungeduldig. Noch immer stand er bedrohlich im Abteil, mit Beinen wie steinerne Säulen, starr und unverrückbar.
„Hören Sie, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Ich habe für diesen Platz bezahlt und ich fordere mein Recht“, sagte er.
„Sie und ihr Baby“, er warf einen verächtlichen Blick auf den friedlich schlafenden Jeremy, „müssen sich woanders nach einem Platz umsehen, schätze ich.“
Er bekräftigte seine Aufforderung mit einem festen Kopfrucker in Richtung des Ganges.
Margarete war sprachlos angesichts dieses unverschämten Tons, in dem kein Funken von Nachsicht oder Milde für eine alleinerziehende Mutter und ihr kleines Baby mitschwang. Unwillkürlich ballte sie die Faust, starrte in sich hinein, blickte dann wieder ratlos zu dem unverfrorenen Mann hin. Ihre Augen funkelten, die Kehle schnürte sich zu. Das Gesicht wurde kindlich vor innerem Zorn, sie versuchte nicht zu weinen. Margarete stand am Rand eines Abgrunds, in den der Mann sie offenbar stoßen wollte. Sie blickte an ihm hoch, sah seine wulstigen Nackenfalten. Seine Augen blitzten rötlich. Drachenaugen. Schwindel ergriff sie und heiße Angst stieg auf.
Sie brauchte einen Moment, bis sie sich gesammelt und ihre Stimme wiedergefunden hatte.
„Kann ich Ihr Ticket noch mal sehen?“, fragte sie leise.
„Ich wüsste nicht, was das ändert. Aber schön. Hier!“
Wieder hielt er ihr das Ticket aufdringlich nah vors Gesicht. Sie zögerte. Dann sagte sie:
„In Ordnung. Ich steige eh in zwei Stationen aus. Ich mache Ihnen den Platz gern frei.“
Ihre Stimme klang jetzt entschlossen, hatte wieder festen Grund unter den Füßen.
Der Fremde grinste triumphierend und warf einen Blick auf seine goldene Armbanduhr, während Margarete ihren Jeremy vorsichtig in den Kinderwagen hob. Auch auf ihrem Gesicht lag der Hauch eines Grinsens, aber ein merkwürdig dunkles.
„Ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise“, sagte sie, als sie das Abteil verließ.
Der Mann schloss grußlos die Glastür und kehrte ihr den Rücken zu.
Keine zehn Minuten später stand Margarete mit Jeremy an der Waggontür, als die Durchsage ihren Zielbahnhof ankündigte. Ein sommersprossiger Junge half ihr beim Ausstieg. Sie erkannte ihre Eltern am Ende des Bahnsteigs, die bereits sehnsüchtig auf ihre Tochter und den Enkelsohn warteten.
Als sie sich noch einmal zur Bahn umdrehte, setzte sich diese ruckelnd in Bewegung. Ihr finsteres Grinsen huschte noch einmal über ihr Gesicht, als sie den Mann auf Platz 69 sitzen sah. Sie hob die Hand und winkte ihm zum Abschied übertrieben freundlich zu.
Der wird Augen machen, dachte sie, wenn er feststellt, dass er zwar auf dem richtigen Platz sitzt, aber im falschen Zug und dass diese Bahn Hagen niemals erreichen wird. Zugfahren ist doch gar nicht so übel, sinnierte sie, mit dem Siegeslächeln einer Drachentöterin im Gesicht.
René Gröger wurde 1988 in Hamburg geboren. In München studierte er an der Hochschule für Musik und Theater den Masterstudiengang „Musikjournalismus im öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk“. Zurzeit arbeitet er als freier Journalist, lebt in München und Wien. 2019 wurde seine erste Kurzgeschichte beim Literaturwettbewerb Hamburg veröffentlicht. Es folgten weitere Veröffentlichungen und Auszeichnungen. So wurde er 2020 beim Literareon-Kurzgeschichten-Wettbewerb prämiert. Außerdem gewann er den österreichischen PERGamenta Literaturpreis. 2024 bekam er einen Preis für Kurzprosa beim Literaturwettbewerb der KünstlerGilde in Esslingen und den Münchner SpaceNet Award für Kunst. Sein erster eigener Erzählband „Garantiert geiler als dein Leben“ ist gerade erschienen. Mehr Informationen unter: renegroeger.com.
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