Lemniskate

Christiane Richter für #kkl51 „Passagier“




Lemniskate

Ein Kolibri war ein herausragendes Tiere. Nicht nur trotzte er den Gesetzen der Natur, indem er in der Luft stehen bleiben konnte, während sich seine Flügel mit rasantem Schlag weiterbewegten, sondern er war auch als einziger Vogel in der Lage, rückwärts zu fliegen. Und wenn es nötig war, gelang es dem Kolibri seine Körperfunktionen sogar so weit herunterzufahren, dass er nahezu erstarrte und dennoch überlebte.

An all das dachte er, während die Autos wie ein unablässiger Strom an ihm vorbeizogen. Niemand beachtete ihn, den unruhig abwechselnd auf Fersen und Ballen wippenden Mann, in seiner Durchschnittlichkeit unsichtbar wie eine betongraue Hauswand. Beiläufig sah er auf seine Armbanduhr. Sicher würde Herr Pfeiffer gleich eintreffen.

Der Flügelschlag des Kolibris, eine perfekte Lemniskate, die schleifenförmige liegende Acht. Unendlich, gleichbleibend, zuverlässig. Das war sein Leben. Starr, vorhersehbar, eintönig. Gern wäre er mehr wie ein Kolibri gewesen. Klein und wendig, stets Herr der Lage und fähig, sich jeder Situation anzupassen. Sein Pulsschlag erhöhte sich leicht, als er an sein heutiges Vorhaben dachte.

In ebenjener Sekunde als die Uhr an seinem Handgelenk exakt achtzehn Uhr zehn anzeigte, hielt mit einem leisen, elektrisierenden Surren ein Fahrzeug am Straßenrand. Lautlos schwang die rückwärtige Tür auf.

„Guten Abend, Franz Schmidt. Taxi for You freut sich, Sie als unseren Fahrgast an Bord begrüßen zu dürfen“, ließ eine körperlose Stimme aus dem Inneren verlauten.

Sein Herzschlag beschleunigte ob dieser ungewohnten Situation. Das war nicht Herrn Pfeiffers Stimme und auch nicht sein Taxi. Dennoch von Neugier getrieben spähte er in das Wageninnere, versuchte die Quelle der Stimme zu lokalisieren. Doch dort, wo üblicherweise ein Fahrer saß, erstrahlte nur ein leerer, weißer Ledersitz. „Bitte steigen Sie ein und ich bringe Sie gern an ihr heutiges Ziel.“ Ein runder Farbkreis pulsierte mit jedem gesprochenen Wort im Display des Autos.

„Was ist mit … ich meine, normalerweise fährt mich Herr Pfeiffer.“ Ganz sicher hatte er wie in jeder Woche explizit Herrn Pfeiffer als Fahrer erbeten. Seine Herzfrequenz erreichte ein alarmierendes Level. Herr Pfeiffer war sein Fahrer, Herr Pfeiffer kannte die richtige Strecke, Herr Pfeiffer wusste mit seinen Gewohnheiten umzugehen. „Wo ist er denn?“

„Die Firma Taxi for You wurde durch eine Flotte automatisierter Fahrzeuge erweitert. Das ist nicht nur wirtschaftlich effizienter, sondern verspricht auch unseren Kunden ein völlig neues Fahrgefühl.“

Er nickte und schluckte schwer. Völlig neues Fahrgefühl, in der Tat.

Auch die letzten Veränderungen hatte er schweren Herzens akzeptiert. Die Umbenennung von Taxi Schulze zu Taxi 24/7 und schließlich diesem unsäglichen Anglizismus Taxi for You. Selbst das neue Automodell mit anderer Innenausstattung vor drei Jahren hatte er hingenommen. Immerhin war sein Fahrer, Kurt Pfeiffer, immer der gleiche geblieben. Und nur darauf kam es an. Aber das jetzt hier, das ging einfach nicht. Eine Taxifahrt ohne Herrn Pfeiffer, ohne überhaupt einen Menschen am Steuer, noch dazu auf quietschenden, schneeweißen Ledersitzen – nein, also das ging nun wirklich nicht!

„Ich darf Sie darauf hinweisen, dass das automatisierte Fahren, bedingt durch die Bereinigung menschlicher Fehlerquellen, das aktuell sicherste Transportmittel darstellt“, informierte ihn das Auto sachlich.

Daran lag es nicht. Daran lag es bestimmt nicht. Es war Donnerstagabend, genau um achtzehn Uhr dreizehn. Der Sekundenzeiger seiner Uhr zog unbeirrt weiter, als wäre diese Irritation nicht existent.

„Bitte nennen Sie mir ihr Ziel und ich bringe Sie sicher und schnell an ihren Bestimmungsort.“

Ein Kolibri. Ein Kolibri, der seinen Herzschlag herunterfahren konnte, um Energie zu sparen. Ein Kolibri.

Mit einem tiefen Seufzer stieg er ein. Das erwartungsgemäße Quietschen des Polsters unter seinem sich senkenden Körper dröhnte anklagend in seinen Ohren. Mit einem leisen Klicken schloss sich die Tür automatisch, noch ehe er nach ihr hätte greifen können.

Pflichtschuldig nannte er sein Ziel und sofort setzte sich das Auto kaum merklich in Bewegung. „Fahren Sie doch bitte über die Lindenallee.“

„Der für Sie errechnete Weg über die Wilhelminenstraße ist die schnellste Verbindung zu ihrem Ziel“, informierte die pulsierende Stimme aus dem Display.

„Das ähm … stört mich nicht. Ich habe es nicht eilig.“ Unwillkürlich begannen seine Hände am Saum seines braunen Leinenanzugs zu nesteln.

Der Kolibri, der Kolibri, der Kolibri.

„Ich bin angewiesen, den für unseren Kunden effizientesten Weg auf minutengerechter Kalkulation zu wählen.“

Natürlich war der Weg über die Wilhelminenstraße schneller. Verständlicherweise war das das logischste Prozedere. Nur leider unterlag seine Routine einer eigenen Logik. Herr Pfeiffer hatte das gewusst. Und respektiert.

„Wissen Sie, ihr … Vorgänger hat immer die Lindenallee genommen.“

„Der Lizenzfahrer, der sie in den letzten neun Jahren, fünf Monaten und acht Tagen zu ihrem Ziel gefahren hat, hat nicht den kürzesten Weg genommen. Dadurch haben Sie in den letzten neun Jahren, fünf Monaten und acht Tagen einen Zeitverlust von zwei Tagen, neun Stunden und zwanzig Minuten erfahren.“

Zeit war nun wirklich ein Gut, das er im Überfluss besaß. Er beneidete Menschen richtiggehend, die sich über mangelnde Zeit beklagten. Deren Dasein so mit Ereignissen, Verabredungen, Verpflichtungen … kurz Leben gefüllt war, dass sie gar nicht merkten, wie die Zeit verging. Sein Leben hingegen fühlte sich an wie an einer Perlenschnur aufgereihte Ereignisse, die es in der immer gleichen Abfolge abzuarbeiten galt, ohne dabei je wirklich voranzukommen. Ohne Sinn und Seele.

„Mithin wurden unter Berücksichtigung einer durchschnittlichen Inflationsrate von zwei Prozent 3.493,17 € zu viel entrichtet.“

Kurz stockte sein Herzschlag als er die Zahl noch einmal vor seinem geistigen Auge aufblitzen sah. Das war viel Geld. Selbst für jemanden wie ihn, der nicht viel benötigte und sparsam lebte. Aber nein!, dachte er, das Geld war gut investiert gewesen. Jede Woche zur gleichen Zeit die Lindenallee entlangzufahren und sich mit Herrn Pfeiffer zu unterhalten hatte ihm eine kostspielige Therapie erspart. Auch wenn Herr Pfeiffer nie ein Mann großer Worte gewesen war. Ein unangenehmes Gefühl der Beklemmung begann plötzlich seine Adern herauf zu krabbeln. Diese Fahrt fühlte sich immer seltsamer an. „Dann möchte ich jetzt bitte aussteigen.“

„Es tut mir leid, aber das ist leider nicht möglich. Gemäß § 219 Absatz zwei Personenbeförderungsgesetz ist der Beförderungsvertrag zwischen Fahrzeug und Fahrgast nur dann rechtskräftig erfüllt, wenn der Fahrgast zu dem von ihm gewünschten Fahrtziel befördert wird. Das bedeutet …“

„Schon gut, schon gut, dann fahren sie eben über die Wilhelminenstraße“, entgegnete er entnervt.

„Tut mir leid, Franz Schmidt, der Weg über die Wilhelminenstraße ist nicht mehr der schnellste. Auf Grundlage meiner Berechnungen ist der aktuell effizienteste Weg …“

Der Kolibri in seiner Brust begann zu flattern. Schnelle Flügelschläge, die eine Unendlichkeitsacht in die imaginäre Luft zeichneten. Und dann begann der Kolibri rückwärts zu fliegen. Langsam und dann immer schneller.

Das hier war ein Fehler gewesen. Heute, letzten Monat, die letzten Jahre. Bilder zogen in schneller Abfolge an ihm vorbei. Bilder seiner persönlichen Niederlagen. Einer nach der anderen. Immer, wenn er versucht hatte, aus seinen Routinen auszubrechen. So wie jetzt. Er hätte sich niemals in dieses Gefährt setzen sollen, hätte niemals versuchen sollen, etwas tun zu wollen, für das ihm nicht nur der Mut, sondern auch die nötige mentale Stärke fehlte. Es konnte nur furchtbar enden.

Mit einer sachten fast nicht wahrzunehmenden Bewegung stoppte das Fahrzeug unwillkürlich und riss ihn aus seinen Gedanken. Sein Blick flog aus dem Fenster, dann panisch zu seiner Uhr und zeigte ihm, dass er viel zu früh dran war. Schweißperlen rannen ihm über Stirn und Nacken. Er war zu früh!

Taxi for You bedankt sich für ihr Vertrauen in uns.“

Vertrauen, von wegen! Er musste hier raus, jetzt sofort. Als könnte es auch noch seine Gedanken lesen, schwang die Tür des Taxis auf. Unter rasendem Herzklopfen stieg er schnell aus und versuchte, die aufkommende Panik mit einigen Zügen frischer Luft niederzudrücken.

Jetzt war er zu früh und konnte nicht einfach unbemerkt im Schutz der vorbeilaufenden Menschen auf den Eingang starren, in der Hoffnung sie zu sehen, nur um sich dann einzureden, dass er sowieso zu spät dran sei, sie ihn nicht erkennen würde und überhaupt das Ganze eine blöde Idee …

„Franz, na so eine Überraschung! Schön, dass du es doch noch zu meinem Tanzkurs geschafft hast.“

Da stand sie, Henriette, wunderschön wie immer, um keinen Tag seit ihrer gemeinsamen Schulzeit gealtert und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Auf einmal veränderte sich alles. Mit kräftigen Flügelschlägen flog der Kolibri los, begann seinen wunderschönen Balztanz, als er eine tiefe Verbeugung vor Henriette vollführte und ihre grazile Hand mit einem formvollendeten Handkuss zierte.

„Hallo Henriette“, brachte er scheu heraus, „es freut mich sehr dich wiederzusehen.“

„Nach meinen Berechnungen darf ich Sie in sechs Tagen, 23 Stunden und fünf Minuten wieder fahren“, meldete sich das Auto noch einmal aus dem Off zu Wort.

Nein, alles, nur das nicht.




Christiane Richter, Jahrgang 1984, hat Sozialpädagogik studiert und arbeitet mit besonderen Kindern und Jugendlichen. Neben dem Reisen faszinieren sie menschliche Eigenarten und Sonnenaufgänge. Die Leidenschaft für das Schreiben hat sie bereits in ihrer Kindheit gepackt. Wenn sie nicht gerade Geschichten erfindet, ist sie gern in der Natur unterwegs oder betrachtet die Welt durch ein Kameraobjektiv. Die Autorin lebt mit ihrer Familie vor den Toren Leipzigs.










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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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