Oma  war nie „weggewesen“

Tanna Künemund für #kkl51 „Passagier“




Oma  war nie „weggewesen“

und Mama verlachte sie manchmal dafür. Das müsse sich ändern. Es wäre sogar peinlich, sagte sie. „Du kennst doch nix von der Welt.“, sagte sie und betonte nix so sehr, dass es viel wurde. „Und nie kaufst Du Dir etwas!!“ „Wie kann es sein, dass Du nicht mit in den Urlaub willst?“, fragte sie oft. „Dann mach doch wenigstens mal selber einen Urlaub. Die anderen alten Leute machen doch auch Urlaub. Du musst doch auch mal in den Urlaub fahren!“, sagte sie manchmal. Jahrelang war mir durch das Spöttische in diesen Worten meiner Mutter nicht klar gewesen, dass meine Oma nicht von zu Hause weg wollte. Wir dachten eher, sie würde sich nicht trauen, wisse einfach noch nicht, wie schön es sei, so wie sie auch nicht schwimmen konnte oder nicht kletterte oder schaukelte. Wir dachten, sie würde die schönen Dinge des Lebens verpassen oder aus sparsamer Zurückhaltung heraus und aufgrund ihrer Idee, sie müsse immerzu putzen und dürfe nie pausieren, da der Staub sich sonst das Haus holen würde, denken, sie sei ans Haus gebunden. „Zuhause angebunden“ war ein feststehender Begriff so wie „durch den Hund angebunden“. „Oma,“, fragte ich, „wo würdest Du denn in den Urlaub hinwollen?“ „Ach, Mädl, daheim ist´s doch am Schönsten. Das weißt Du doch, dass ich das nicht will und brauch´. Geht Ihr doch in den Urlaub und ich putz derweil das Haus weiter.“ Sie hatte etwas sich selbst Vernachlässigendes und Genügsames an und in sich. Dass wir die Ferien genossen, während sie putzte und, da war ich mir sicher, kaum etwas aß oder gar für sich kochte, schmälerte meine Urlaubsfreude. Es ging mehr um uns als um sie. Als Mama sagte: „So! Jetzt kaufen wir ihr eine Reise. Dann muss sie mal verreisen!“, sah ich ganz kindlich nur den positiven Aspekt eines Geschenkes. Wir überredeten sie in Form einer Überraschung. Schon eine Schachtel Pralinen waren ihr zu besonders, zu verwöhnend, zu dekadent, doch als sie sah, dass sie nur eine Karte bekam, schien sie fröhlich zu sein. Geschenke anzunehmen, fiel ihr schwer. Wir überredeten sie, die Karte zu lesen, was sie eventuell nicht getan hätte, denn sie war nicht so der lesende Typ. Als sie las, dass es sich um einen Gutschein handelte, wurde sie bleich. Als sie realisierte, dass ihr Geschenk eine Reise war, sagte sie: „Nein! Nein! Das lassen wir mal lieber. Was brauch´ ich denn Urlaub? Und wo Teneriffa ist, weiß ich nicht.“ Als sie verstand, dass sie dafür würde Flugzeug fliegen müssen und nicht nur abheben, sondern auch landen müssen, also auf dem Erdboden zerschellen, sah ich zwar die Angst in ihren Augen, aber Mama beruhigte sie. „Das wirst Du mögen. Da ist alles inklusive.“ Wir zwangen sie, ohne zu realisieren, dass wir Zwang auf sie ausübten. Wir dachten an sie, als wäre sie nicht sie selbst, als hätten wir sie nie gesehen oder in ihrer Eigenart wahrgenommen und so versuchten wir, sie dazu zu zwingen, glücklich zu sein. Oma hatte deutlich Angst an diesem Geburtstag, doch meine Mama  beruhigte sie mit der Tatsache, dass sie nicht alleine fahren müsse. Die Mutter des Rechtsanwaltes würde mit ihr zusammen fliegen. Der täte das auch gut. Die zwei alten Frauen kannten sich nur vom Austausch von Höflichkeitsfloskeln, die zudem Jahre zurücklagen. Sie hatten kein Gesprächsthema. Die andere war eine Extrovertierte, die sich gerne aus „dem Haus“ bewegte und einen Namen trug. Meine Oma war einfach die Oma und fürchtete sich täglich vor Unheil. Die zwei Frauen würden sich sogar ein Zimmer teilen. Als meine Oma dies hörte, erstarrte sie. Dies klang nach Krankenhaus und die meisten starben dort. Peu à peu verstand sie mehr bezüglich dieser, ihrer Reise. Als sie verstand ,dass „es“ dort eine andere Sprache gab oder sogar mehrere fremde Sprachen gesprochen wurden und dort in der Fremde nicht einmal das für sie schwierige Hochdeutsch eine amtliche Sprache war, geschweige denn ihr richtiges Deutsch, weinte sie fast. Ich wusste nicht, dass Reisebuchungen rückgängig gemacht werden konnten, doch eine Stornierung wäre uns auch nicht „in den Sinn gekommen“. Nicht nach Teneriffa zu wollen, war abstrus für meine Mutter und mich kleines Kind. Auch die Tanten und Onkel lachten die alte, verängstigte Frau aus. Niemand aus unserer Familie hatte versucht, sie zu verstehen. Ein „sich in andere hineinzuversetzen“ gab es bei uns gar nicht. Das Gegenteil war der Fall. Alle taten ihre Sorgen als dumm und unmöglich ab und sagten Ahwah!, nichts als Awah! mit dem dazugehörigen Abwinken der rechten Hand, abfällig. Alle die sich nicht in sie hineinversetzten, also alle, wollten sie „einfach“ in den Flieger setzen. Da würde man sie halt ´reinsetzen, wobei da schon das nächste Problem begann. Ein Flieger war ein Kriegsflugzeug und warf Bomben ab. Als sie verstand, dass es auch Passagierflugzeuge gab, wurde sie ausgelacht, wie sie mit über Siebzig immer noch nicht wissen könne, dass „man“ in Flugzeugen fliegt, dabei würde sie doch täglich die Landesschau und die Tagesschau gucken. Dort hatte sie Flugzeuge eher als Photos von Flugzeugteilen, an Klippen zerschellt und abgestürzt wahrgenommen und das potenzierte ihre Angst dann erneut. Als sie verstand, dass dort, auf Teneriffa Sommer war, war dieser ihrer Meinung nach vollkommen unnötig. Dann würde „man“ doch schwitzen. Auf eine Insel zu gehen oder gar zu fliegen machte ihr noch mehr Angst. „Heißt das, dass dann da außen´rum überall Wasser ist, rings´rum? Ich kann doch nicht schwimmen.“ Sie könne am Meer liegen und könnte doch „einfach“ endlich mal schwimmen lernen, sagte Mama. Oma wolle „einfach“ nichts Neues lernen und als sie sagte, sie würde sich auch ohne ihre Kittelschürze nicht wohlfühlen, sagte Mama: „Da nimmst Du Deine Feiertagskleider mit!“ Selbst an Feiertagen zog sie sie nur ungern an und mit der Schürze darüber. Sie würde fliegen müssen, zum schlimmsten Ort der Erde und dies auch noch verkleidet. Sie wäre eine fremde Passagierin, die sich nicht einmal selbst aussprechen könnte.

Dort gäbe es kein richtiges Essen wie daheim und alle würden am Pool sein.

Sie trank keinen Alkohol außer dem Festtags-Eierlikörchen, das sie langsam schlürfte, so langsam, so dass das Gläschen dabei fast wirkte, als würde es voller werden, wenn ihre vorsichtigen Lippen die gelbe Soße küssten. Sie war ungeübt. Sie küsste nie. Wir alle küssten nicht. Auch Herzmittel, die ich ihr von meinem Taschengeld zum Muttertag kaufte, trank sie schlückchenweise so sparsam, dass die Flasche bis zum nächsten Muttertag halten würde. (Flaschen sollten halten und Teller sollte ich aufessen). Sie würde die Hotelbar kaum nutzen und auch das gekauft Essen würde sie nicht antasten und sich dann aber schlimm fühlen, denn Essen durfte nie verderben. Ein größerer Zwiespalt war für sie kaum möglich. Sie mochte ausschließlich deutsches Essen. Wenn das deutsche Essen aus Österreich kam, also dort erfunden worden war, fand sie es auch gut. Kaiserschmarrn buk sie gern und aß auch ein bisschen davon. Ein Buffet überforderte sie über alle Maßen. Abends zu essen war für sie unmöglich und … Sonne auch. Manchmal begegnete ich ihr im Sommer selten. Sie wich der Sonne so gut wie möglich aus. Die Sonne war nie ihre Freundin gewesen. Sie fühlte sich von der blöden Sonne ausgelacht. Ihr einziger Bezug zur Sonne war, dass sie die Bezüge ausblich, verblichene Farben, wie Leichen. Das tat sie, die Sonne, als eine aktive Tat. Einer der häufig wiederholten Sätze meiner Oma war: „Die Sonne bringt es an den Tag.“ Erst sie zeigte mit ihren strahlenden Fingern auf Stellen, an denen Staub sich nach dem Staubwischen wieder zart abgesenkt hatte und machte Omas Arbeit schlecht. Die Sonne verhöhnte sie. Auf frischgeputzten Fußböden sah man im Sonnenschein Staub. so etwas durfte nicht sein und machte ihr die Sonne unsympathisch. „Jedes Bisschen“ sah „man“ im Sonnenschein auf den frischgeputztesten Scheiben. „Die Sonne ist nichts Gutes.“, sagte sie mir manchmal.

Die Sonne. Ich vermisste sie oft und legte mich „in sie“.

Die Schöpfung hatte Oma ein Bein gestellt oder lagen überall unsichtbare Bananenschalen und böse Sonnenstrahlen? 

Im Hotel auf Teneriffa gab es Sonne und nichts zu tun. Von beidem gab es zu viel. Sie durfte dort nichts tun und nicht putzen. Das schlimmste sei, dass sie zum Erholen dort sein müsste. Sie wusste nicht, was das war. Alle Erholung war Unwohlfühlen und Angst. Sich ein Zimmer zu teilen mit mir wäre gut, doch mit einer Fremden, war für sie schwer vorstellbar. „Dann denk´Dir doch, Du wärst im Krankenhaus.“, versuchte ich sie zu beruhigen. Dort war sie auch nie gerne gewesen. „Was soll ich denn dann da den ganzen lieben langen Tag machen?“, fragte sie mich, enorm angespannt und den Tränen nahe. „Na, da machst Du Urlaub.“, antwortete meine Mutter trällernd.  

Es blieb ihr nicht erspart.

Ihr Leben lang hatte sie nichts selbst entschieden. Sie hatte irgendwann, lange vor der eventuell möglichen Kontrolle über ihr Leben, als sie ohne Mann und Kinder den Krieg über inmitten des Lärms der Bomben alleine lebte, nichts entschieden, hatte immer nur ausgeharrt, gewartet, dass Entscheidungen gefällt wurden und war stets eine Passagierin ihres Lebens gewesen. Einen Führerschein hatte nur der Führer gehabt. Auch später ließ sie sich fahren, führen und kutschieren und als sie ins Flugzeug gesteckt wurde, wie später ins Heim, wehrte sie sich zart verbal mit den übergangenen Neins ihres Lebens. Sie wusste, dass ihre Neins nichts galten. Es gab die Bestimmer und den Piloten.

Sie würde fliegen müssen, zum schlimmsten Ort der Erde. Sie wäre eine fremde Passagierin, die sich nicht einmal selbst aussprechen könnte. Sie hätte Sonnencreme im Gepäck, die sie nicht nutzen würde.




Tanna Künemund

Als sie zehn Jahre alt war, reichte Tannas Lehrerin heimlich ihren Text über den Zerfall von Körpern und Tod durch Krebs ein. Dass dieses Gedicht abgedruckt wurde, rief das Entsetzen ihrer Mutter hervor. Nie wieder sollte sie „so etwas tun!“. Schon sechs Jahre zuvor war ihre Mutter von der vierjährigen Tanna peinlich durch deren kindlichen Auftritt eines Gedichtes sowie eines Liedchens blamiert worden

All dies hätte sie nie wieder zu tun. 

Danach war Schluß mit der Kunst.

Bemüht hat sie sich nie.

Sie hat etwas studiert und spät erst eine ordentliche Ausbildung mit Staatsexamen gemacht.

Lieber schreibt sie und macht Kunst.

In freien Blättern und im Internet hat sie hie und da ein Gedicht abdrucken lassen oder Prosa / Erzählungen.

Der Ort der Augen hat eine ihrer Geschichten im Dr. Ziethen Verlag verlegt.

(Ort der Augen ODA ist die offizielle Literaturzeitschrift des Landes Sachsen-Anhalts des Friedrich-Bödeker-Kreises).

Im Konkursbuchverlag wurde in einem Sammelband eine ihrer Kurzgeschichten (Der Plüschfrosch) mit selbstinszenierten Photos von ihr verlegt.

Eine Kurzgeschichte ist in der Gorleben Rundschau, eine wurde im Zero gedruckt.

Im KunstKulturLiteratur #kkl 2024 wurde Prosa und einige Gedichte und Skulpturen von ihr veröffentlicht ( in den Sammlungen Heft 7/24 und 10/24)

Sie hat im Theater der Stadt Stendal beim Poetry Slam Texte gelesen

und ebenso beim Wendland Poetry SlamJam, in der Stadtbibliothek Salzwedel im Rahmen der Literaturtage Sachsen-Anhalts,

beim Poetry Slam in Uelzen,

und im Raum2 in Neu Tramm,

beim Kampf der Künste im Salon Hansen Lüneburg

und beim KdK in Hamburg,

auf dem roten Stuhl der Lesungen in Uelzen,

im Schlachthof in Bremen, an der Oberlahn,

bei einigen Festivals wie der Fusion, dem Simsalaboom … war sie auf Slam Bühnen,

zur kulturellen Landpartie im Wendland ist sie schon 15 Jahre lang literarisch aktiv.

Sie veranstaltete Lesungen und oder Lesungs Jams:

im Kulturverein Raum2, Neu Tramm,

in der Sofaauffangstation Kriwitz,

im Kuhdamm Kaulitz und dort in der Dub Station.

Sie hat einen Poetry Slam für Wagen und Winnen im Bahnhof Salzwedel

veranstaltet und

einen Friedensslam 2018 im Rathaussaal der Stadt Uelzen, 

mehrere Slams und Lesungen am Zwischenlager Gorleben,

2 Poesie Jams am Peckfitzsee zu 2 Solarfestivals

und Lesungen in ihrem Arbeitsumfeld.

Poetry Slams, Poetry Jams und Lesungen organisiert sie seit 2010.

Sie stellt auch ihre queerfeministischen Skulpturen

und „Zahn der Zeit Installationen“,

„weiche Betonteppiche“ und „Flickwerk“ aus.

Oft thematisiert sie das Thema Tod

und die immense Freude, am Leben zu sein.

Tanna Künemund ist nicht nur Schriftstellerin und bildende Künstlerin, sowie Organisatorin von Literaturveranstaltungen. Sie arbeitet auch als Ergotherapeutin, wo sie Menschen zur Kunst und Schreibkunst inspirieren konnte, auch im Ausland.

Zur kulturellen Landpartie betreibt sie den Literaturpunkt Kriwitz. Dort fanden bislang 3 Jahre lang Schreibworkshops und andere workshops statt.

Sie lebt mit seltsamen Tieren zusammen, die sie beflügeln, aber Fell tragen.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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