Anna Darms für #kkl51 „Passagier“
Der Passagier
Um 25:71 Uhr hätte er kommen sollen, aber er das tat er nicht. Vermisst hat ihn keiner. Denn wie kann man auch jemanden vermissen, den man nicht kennt?
Le und Mon beim Sonntagskaffee
Le schlürft ihre Holunderblüten-Zitronen-Schorle leer, als sie euphorisch beginnt zu labern.
Le: Mon, du kennst den neusten Gossip noch nicht!
Mon: Nein?
Le: Nein, ganz bestimmt nicht
Mon: Wenn du Alfreda und ihr neues “Ich akzeptiere nur noch Bargeld, weil ich anders und cool-bin-Konzept“ meinst, dann weiss ich bescheid. Minnie war grad gestern bei ihr im Salon.
Le: Und, hattest du genug Cash dabei?
Mon: Natürlich nicht. Musste bei der Bank Geld abheben. War übrigens ein teurer Spass, 180 Euro.
Le: Für einen Pudel?
Mon: Für einen Pudel, ja. Wenigstens sieht Minnie jetzt wieder schick aus.
Le: Wenigstens. Aber das meinte ich nicht mit dem neusten Gossip, es gibt nämlich ein anderes Update, dass ich dir erzählen muss.
Mon: Hau raus!
Le schaut sich kurz um, um sich zu vergewissern, dass sie auch ja niemand hören kann.
Le: Also…
Mon rückt mit ihrem Stuhl ein wenig näher, spielt nervös und gespannt auf Le’s Antwort wartend mit ihrem Edelmetall-Strohhalm und den halbgeschmolzenen Eiswürfeln im noch halb vollen Glas Lemon Matcha Latte.
Le beginnt zu verkünden: Es ist wahr, er ist hier, tatsächlich!!!!!
Mon: Omg, gibt’s ja nicht! Seit wann?
Le: Das weiss man nicht, oder zumindest ich nicht. Es munkelt auch, dass er schon immer hier war, in unserem Dorf, aber sich erst jetzt bemerkbar oder zumindest erkennbar gemacht hat.
Mon: Hör auf! Du sprichst von ihm, als wäre er ein Geist.
Die pinke Hose – pinke Bluse – nettes Lächeln – Kellnerin, die seit einer gefühlten Ewigkeit unauffällig und vermeintlich tischputzend in ihrer Nähe stand und heimlich lauschte, interveniert nun.
Kellnerin: Entschuldige, dass ich so plump frage, aber um wen geht’s?“
Le und Mon gleichzeitig, und wegen ihrem heimlichen Zuhören in einem leicht genervten und monotonen Ton: Der Passagier.
Die pinke Hose – pinke Bluse – nettes Lächeln – Kellnerin fällt in Ohnmacht. Kopf schlägt sich an, nun beschädigt. Pinke Bluse voller Blut. Nettes Lächeln hat sich in wurstlig zusammengepresste, langsam blau anlaufende Lippen verwandelt. Rätsel offen. Passagier da (Gerüchten zufolge).
Hans-Peter in seiner „Märlistunde“ mit seinen 11 Enkeln:
Hans-Peter: So meine Kinder, seid ihr alle bereit für eine neue Märli-Stunde?
Die Kinder vor ihm im Kreis sitztend, dreiviertel von ihnen lauthals schreiend: JAAAA!
Hans-Peter: Es war ein mal, vor nicht allzu langer Zeit ein junger Mann namens Joachim, der in einem Dorf lebte. Tatsächlich sogar hier in unserem Dorf. Der junge Mann arbeitete als Holzfäller und war glücklich und zufrieden mit seinem Leben. Er hatte einen Beruf, das Holzfällen, den er von seinem Vater übernommen hatte. Er hatte donnerstags immer frei und einen Hund hatte er auch, Aristoteles hiess der. Joachim war stets aufgestellt und glücklich. Er war sehr zuvorkommen und lieb und einfach ein flotter junger Mann, so wie man sich einen flotten jungen Mann nunmal vorstellt. Nie war er böse oder geärgert, er sah immer die guten Dinge des Lebens. Jeder Tag sah bei Joachim genau gleich aus. Er stand jeden Morgen um 71:02 auf, reinigte seine Beisserchen mit fluoridfreier Zahnpasta, machte 101 Liegestützten und ging mit Sokrates spazieren, noch bevor er frühstückte und sich seiner Arbeit widmete. Eines Tages war Joachim wieder auf dem Weg in den Wald, um seiner Holzfällerei nachzugehen. Als er aber am Abend nach der Arbeit wieder zurückkam aus dem Wald, hatte sich alles verändert.
Enkel Nr.5 erkundigt sich: Alles, Opa?
Hans-Peter (,,Opa“): Ja, alles. Wirklich alles. Seine Frau erkannte ihn und sein neues Verhalten nicht wieder. Auch Joachim war verwirrt, was ihm passiert ist. Lange schwieg er darüber, bis er eines Abends vor dem Kamin sass und seinem Hund und gleichzeitig besten Freund Aristoteles anvertraute, mit wem er an jenem Tag Bekanntschaft gemacht hatte.
Enkel Nr. 9: Mit wem Opa? Mit wem, mit wem, mit wem? Ich will es wissen!
Hans-Peter: Mit dem Passagier.
Alle 11 Enkel sichtlich geschockt: Waaaaasss?????
Zora in ihrem Refexions-Journal über den Passagier
Seit geräumiger Zeit mache ich mir nun schon Gedanken über den Passagier. Aber erst kürzlich, als er in unser Dorf gekommen ist, bin ich an Erkenntniss gelangt.
Was oder wer oder wie der Passagier genau ist, weiss niemand, bevor man ihn kennenlert, oder besser gesagt, bevor man ihn erlebt.
Bevor man den Passagier erlebt, herrscht absolute Ungewissheit.
Ungewissheit darüber wer oder was er ist und ob und wann er uns besuchen kommt.
Ungewissheit ist bekanntlich der Ursprung vieler Ängste. Vielleicht ist das auch der Grund, warum es uns schockt, so wie es frau F (die pinke – Hose – pinke Bluse – nettes Lächeln – Kellnerin) geschockt hat, wenn wir wissen, dass der Passagier uns besuchen kommt.
Der Passagier ist gewissermassen das Leben, oder zumindest ein Teil davon.
Der Passagier ist seit unserer Geburt ein fester Teil von uns allen und er wird uns auch unsere ganze Lebensreise lang begleiten. Er ist stets bei uns, aber erst an einem gewissen Punkt unseres Lebens erkennen wir ihn. Nach einer Krise oder im monologen Alltag des Nichts. Wenn wir das erste Mal den Passagier erkennen und anerkennen, dass er ein Teil von uns ist, kann uns das sehr schlecht fühlen lassen. Denn der Passagier ist ehrlich. So ehrlich, dass es un unangenehm wird. Er sieht unsere Ziele und Träume, unsere Versprechen und Vorsätzte und unser Handeln, dass, nicht allzuselten dagegenspricht. Er sieht das und weist uns auf dieses Paradoxon hin, fragt uns wieso wir nicht unseren Träumen gemäss handeln, macht uns Vorwürfe. Andere nennen den Passagier „unser Ego“ oder „Autoritäre Stimmen“ und sprechen ihm jeden Nutzen ab, warnen gar vor ihm. Aber der Passagier ist im Grunde sehr wohlwollend und will das Beste für uns. Deshalb ist er auch so ehrlich zu uns und deshalb ist uns genau das so unangenehm. Der Passagier ist ein Mitreisender in unserer Lebensreise und je früher wir Frieden mit ihm schliessen und ihm zuhören, desto angenehmer wird die Reise.
Schlussworte der Erzählerin:
Der Passagier ist auch die Realität. Deshalb war Frau F auch so geschockt, sie hat erkannte, dass der passagier in ihr Dorf kommt und dass das bedeutet, dasss sie mit der Wahrheit konfrontiert wird und vom Passagier darauf hingewiesen wird, was sie in ihrem Leben falsch macht. Falsch, weil es gegen ihre Träume spricht. Falsch, weil es ihr nicht guttut. Falsch, weil sie von Feigheit zurückgehalten statt von Mut geleitet wird.
Der Passagier kann manchmal ganz schön laut sein und einem echt böse Vorwürfe machen, was zu schweren Schuldgefühlen führen kann, zurecht auch. Denn erst dadrurch erkennen wir, wo wir auf unserer Reise sind und wo wir gerne hinmöchten. Joachim wurde mitten beim Holzfällen vom Passagier besucht und hat ab diesem Punkt angefangen, sein Leben zu hinterfragen. Seit der Passagier aufgetaucht ist, hat Joachim sich gänzlich verändert, er lebt nun nach seinen eigenen Ideen und Vorstellungen und ja, er ist sogar aus seinem Dorf ausgebrochen. Er lebt nun in einer grossen Fremdstadt, mit dem Passagier an seiner Seite und natürlich Aristoteles, versteht sich.
Le und Mon sind übrigens keine Freundinnen mehr, denn als der Passagier auch sie besucht hat, mussten sie bitter feststellen, dass das Leben mehr ist als Klatsch und Tratsch und dieses „Gossippen“ über andere, sie kein Stückchen glücklich gemacht hat, sondern ganz im Gegenteil.
Frau F, die pinke Hose – pinke Bluse – schönes Lächeln – Kellnerin, kam, nachdem sie in Ohnmacht gefallen ist, ins Spital. Sie musste sich danach erstmal von dieser Strapaze und vom Fakt, dass der Passagier nun hier im Dorf ist, erholen. Nach ihrer Genesung durfte auch sie den Passagier kennenlernen, oder wie es Zora sagen würde, „erleben“ und es hat das Leben von Frau F aka pinke Hose – pinke Bluse – schönes Lächel – Kellnerin in allen Hinsichten bereichert.

Anna Darms, geboren am 24.04.2003, Maturitätsabschluss mit Schwerpunkt Philosophie, Pädagogik, Psychologie.
Studiert Philosophie und im Nebenfach Erziehungs-wissenschaft.
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