Magdalena Berger für #kkl51 „Passagier“
Die Zugspringer
Auf einer Zugfahrt mit mehreren Tunneln fragte ich mich: Was passiert eigentlich in der Dunkelheit, wenn ein Zug mit annährend zweihundert Stundenkilometern hindurchrast? Leuchtet das Innere des Bergs nur kurz lichterloh auf, bevor alles wieder in schwarzer Stille verschwindet? Aber wenn der Zug nichts mit dem Berg macht, vielleicht macht der Berg ja etwas mit dem Zug. Oder einem Passagier.
Jane hatte sich all das noch nie in ihren 56 Jahren gefragt. Während manch anderer es fürchtete mit so vielen fremden Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht zu sein, auf Betrunkene oder schreiende Babys zu treffen, während der Fahrt zu schlafen oder auf die Zugtoilette zu gehen, reiste Jane schon seit ihrer Jugend regelmäßig mit dem Zug und hatte gefühlt bereits alles erlebt – und überlebt.
Deswegen hatte sie ihren Rollkoffer kurzerhand stehen lassen und war zwei Waggons weiter zur Toilette gelaufen. Jetzt war sie auf dem Weg zurück. Gemütlichen Schrittes wechselte sie von Waggon zu Waggon. Bei jedem Übergang musste sie kurz stoppen und den Knopf an der elektrischen Türe betätigen, damit sie sich aufschob. Gedankenverloren hatte sie die erste Türe passiert und schlenderte gerade auf die zweite zu, als es draußen vor den Fenstern stockfinster wurde.
Der Zug fuhr in einen Tunnel und statt dem hellen Tageslicht, erhellten jetzt nur noch die kühlen LED-Deckenlampen des Zugs den Innenraum. Jane betätigte den Knopf der zweiten Türe und sie schob sich auf. Sie war bereits zwei Schritte gegangen, als ihr erst auffiel, dass hier etwas nicht stimmte. Quietschend fiel hinter ihr die Metalltür zu. Verwirrt runzelte sie die Stirn beim Anblick der grau-orange gestreiften, rundlichen Sitze und den hellgelben Wänden. Bis eben waren die Sitze noch einfarbig hellblau und recht kantig gewesen und die Wände hellgrau.
Aber das hier sollte eigentlich der Waggon mit ihrem Sitzplatz sein. Zügig ging Jane zu der Reihe, wo sie gesessen hatte. Ungläubig blinzelte sie das junge Pärchen an, das auf ihrem Sitz saß. Von ihrem Koffer keine Spur. Ein Zucken ging durch Janes Stirnpartie. Sie drehte sich um, schaute zu der Mutter mit Kind gegenüber und dann hinauf zum Schild mit der Waggon- und Sitznummer. War sie vielleicht gedankenversunken einen Waggon zu weit gegangen?
Janes Gesicht kam eine Erleuchtung und sie entspannte sich wieder. Wahrscheinlich war sie nach der Toilette in die falsche Richtung gelaufen. Amüsiert von ihrer eigenen Schusseligkeit lächelte sie und ging den Weg zurück. Sie brauchte etwas Kraft, um die Tür aufzuziehen. Als sie in den vorherigen Waggon zurückging, schien die Inneneinrichtung wieder wie zuvor. Entspannt schlenderte sie zum nächsten Waggon. Schon als die elektrische Türe sich geschmeidig öffnete, stutzte sie und warf ihr gesamtes Gesicht in Falten.
War sie jetzt aus Versehen in der ersten Klasse gelandet? Das Innere dieses Waggons war vollkommen schneeweiß, glattpoliert und mit schiefen, abgerundeten Fenstern. Die Ränder der Sitze leuchteten im gleichen Neonblau wie die hohe Decke. Zögerlich trat Jane ein und ging vorsichtig voran. Ein Herr in grauem Anzug und mit sehr fein säuberlich rasiertem Bart wandte sich neugierig zu ihr um. Abschätzig musterte er sie von oben bis unten und schaute dann wieder auf sein Tablet hinunter.
Für Jane waren solche Blicke von jungen, adrett gekleideten Leuten nicht fremd. Sie war in den 70ern aufgewachsen und ihrem bunten, lässigen Stil treu geblieben. Das gefiel nicht jedem, aber da stand sie drüber. Also hob sie den Kopf und ging zielstrebig weiter. Nach dem fünften Passagier mit dem gleichen, grauen Anzug, wurde Jane jedoch unsicher. Allmählich stieg ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf. Hitze schoss ihr in den Kopf, ihr Herz raste.
Ihre Schritte wurden schneller und schneller, bis sie fast rannte. Die Tür vor ihr öffnete sich schon mehrere Meter vor ihr und in großen Schritten stürzte sie ins Zwielicht eines Raums, der sich kaum Passagierabteil schimpfen durfte. Boden und Wände bestanden aus mattem, gebürstetem Metall und statt Leuchtröhren zog sich ein riesiger Bildschirm voll bunter, explodierender Werbung über die gesamte Decke. Unter den wenige Zentimeter hohen Fenstern standen karge Sitzbänke aus Kunststoff. In der Mitte zog sich ebenfalls eine lange Reihe bis zur anderen Türe. Die korallenrote Oberfläche war mehrfach zerkratzt und ebenso wie die Wände und der Boden voller Dreck und Schmierereien. Der üble Gestank ließ Jane sofort ihre Nase zu halten. Es saßen nur wenige Passagiere im Abteil und keiner von ihnen sah auch nur eine Sekunde lang auf, als sie vorsichtig an ihnen vorbei lief. Ihre Kleidung war glänzend wie Kunststoff und komplett schwarz. Dafür leuchteten seltsame Lichter in ihren Augen auf, als wären sie winzige Bildschirme. Jane wurde äußerst unwohl. Zügig ging sie auf die nächste Abteiltür zu. Wieder ging sie von alleine auf.
Dieses Mal blieb Jane direkt in der Tür stehen und hielt sie auf, während sie in den nächsten Waggon lugte. Es war stockdunkel, bis auf das Neonlicht um die zwei Türen herum. Der grüne Schimmer beleuchtete nur schwach die nächstgelegenen Gegenstände. Jane kniff die Augen zusammen und trat näher an die länglichen Kunststoffquader heran, die den gesamten Raum ausfüllten. Das hier war kein Passagierwaggon. Oder?
Jane beugte sich leicht nach vorne und strich mit der flachen Hand über die Kunststoffoberfläche des nächsten Quaders. Erschrocken fuhr sie zurück, als sie unter dem angelaufenen Glas einen schlafenden, gräulich bleichen Menschen ohne jegliches Haar im Gesicht erkannte. Mit der Rückseite stieß Jane gegen einen weiteren Quader und schreckte wieder zurück. Die bläuliche Beleuchtung in beiden Quadern sprang an. Dann packte Jane die blanke Furcht und sie stürzte aus der Tür zurück in den zugemüllten Wagen. Sie rannte Waggon um Waggon zurück ohne sich groß um ihren Inhalt zu scheren. Erst, als ihr die Puste ausging, blieb sie schwer atmend stehen. Jane stützte ihre Hände auf die leicht gebeugten Oberschenkel und konzentrierte sich erst einmal darauf nicht an Sauerstoffmangel zu sterben. Nachdem sie langsam wieder normal atmen konnte, schaute sie auf und traute ihren Augen kaum. Vor ihr saßen auf schlichten Holzbänken in einem kleinen, völlig hölzernen Abteil zwei Dutzend Herren in Frack und Zylinder. Allesamt starrten die seltsame Frau in ihren bunten, grobgestrickten Kleidungsstücken völlig entgeistert an. Ein besonders korpulenter Herr links vor Jane, der sie sofort an Winston Churchill erinnerte, räusperte sich und blubberte dann mit tiefer, bedrohlicher Stimme:
»Sie sollten jetzt besser verschwinden. Weibsvolk.«
Jane schluckte, dann huschte ihr Blick zur Tür auf der anderen Seite. Sie war auch aus Holz, aber nur die Einfassung. Durch das Glas konnte sie die Schwärze des Tunnels sehen, durch die hier und da eine Dampfschwade der Lok vorne huschte. Jetzt wusste Jane es sicher: Sie war nicht nur durch die Waggons gegangen. Bei jedem Abteilwechsel hatte sie sich auch in der Zeit vor- oder zurückbewegt. Sie war im letzten Waggon angekommen, also war sie wahrscheinlich im 19. Jahrhundert, als der erste Zug über diese Schienen oder…
Jane ging ein Licht auf. Das Einzige, was sich nicht verändert hatte, war die tiefe Schwärze des Tunnels. Sie drehte sich um und ging langsam ins vorletzte Abteil zurück. Verdutzt hob sie die Augenbrauen und blinzelte. Der Waggon hatte vorher noch ganz anders ausgesehen. Jetzt unterschied er sich kaum zum letzten. Das Holzinterieur war fast identisch, bloß saßen und standen hier dicht gedrängt Passagiere von jedwedem Alter und Geschlecht. Irgendwo schrie ein Baby, jemand hustete und jemand anderes schnarchte laut. Darüber lag ein dichter Brei aus Gesprächen.
»Hm.«, machte Jane nachdenklich.
Im Kopf spann sie sich eine Theorie zusammen und allmählich wanderten ihre Mundwinkel nach oben. Mit zügigen Schritten lief Jane zum nächsten Abteil und zog die Tür auf. Wie erwartet hatte das Abteil sich deutlich verändert, ebenso wie die Mode der Passagiere. Wenn sie nicht völlig falsch lag, war sie in den 50ern angekommen. Wieder wurde sie mit großen Augen angestarrt, doch die schlicht gekleideten, grauen Passagiere schauten schnell wieder zu Boden.
Etwas langsamer wechselte Jane in den nächsten Waggon und erreichte die 80er. Mit jedem Waggon, den sie weiterging, wurden ihre Schritte langsamer und die Zeitsprünge kleiner. Als die Inneneinrichtung endlich wieder der aus ihrem Jahrzehnt entsprach, wagte Jane es vorsichtig zu hoffen. Sie sah Jeans, Smartphones und Kopfhörer, das war schonmal gut. Aber war das auch genau ihr Jahr? Genau der Tag, an dem sie durch den Berg gefahren war?
Ein völlig seltsames Gefühl überkam sie, als wenige Reihen weiter die Kante eines orangen Rollkoffers zu erkennen war. Vorsichtig, mit langsamen Schritten ging sie darauf zu. Ihr Herz hüpfe freudig und doch rumorte es komisch in ihren Eingeweiden, als sie vor ihrem Sitz mit ihrem Koffer darauf stand. Ungläubig fuhr sie mit den Fingern über die geriffelte Oberfläche. Dann warf sie sich schnell auf den Sitz daneben und legte die Hand darauf.
»Und jetzt?«, fragte sie sich und wartete darauf, dass etwas passierte.
Gleißendes Licht brach durch das Fenster neben ihr und blendete sie. Schnell kniff Jane die Augen zusammen und hob die Hand zum Schutz. Als ihre Augen sich allmählich wieder an das Tageslicht gewöhnt hatten, wagte sie es durchs Fenster nach draußen zu schauen. Der Zug fuhr über eine Brücke, im Tal lag eine große Stadt neben einem Fluss. Strommasten zogen sich am Horizont entlang. Jane drehte sich zum Gang und spähte aus dem Fenster gegenüber. Auf den bewaldeten Hügeln ragten Windräder in den Himmel.
Der Gong der Ansage ließ sie erschrocken zusammenzucken, dann huschte ihr Blick zur Anzeige hinauf. Erleichtert las sie das heutige Datum. Jane stutzte. Die Uhrzeit auf der Anzeige war exakt die gleiche wie in dem Moment, als sie von der Toilette zurückgekommen war. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Mit einem leisen Zischen ging die Tür auf. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie aufblickte – direkt in ihr eigenes Gesicht. Beide Janes starrten einander schweigend an. Sekunden in absoluter Reglosigkeit verstrichen, während der Zug munter weiterratterte und die Passagiere leise vor sich hin plapperten. Dann verschluckte die Dunkelheit den Zug – und Jane mit ihm.
Magdalena Berger (*1993) schrieb schon als Kind Kurzgeschichten mit fantastischen Komponenten. Ihre erste veröffentlichte Geschichte erschien 2012 in der Anthologie „Einhörner“ (Hg. Fabienne Siegmund, Verlag Torsten Low). Nach ihrem Studium in Geschichte, Germanistik, Sozialkunde, Philosophie und Kunst arbeitet sie heute als Lehrerin für Mittelschulen in Bayern.
Über #kkl HIER
