Eduard G. Schlaffer für #kkl51 „Passagier“
Trilogie der Bewegung
I. Aufbruch
Ich packe Licht in die Tasche,
Nehm Zweifel wie Reisegeld,
Die Uhr zeigt mir keine Zeit,
Nur Richtung, kein Ankommen.
Ein Wind flüstert: „Jetzt! Geh los!“
Das Ziel ist noch ohne Namen,
Doch das Herz hat schon ein Bild.
II. Fahrt
Der Zug atmet in der Nacht,
Ein Puls aus Metall und Dampf.
Fenster spiegeln fremde Blicke,
Gedanken wie Fahrkarten.
Worte, die man nie mehr spricht,
Liegen offen auf den Sitzen –
Stillstand rollt durch Dunkelheit.
III. Ankunft
Ein Schild mit bekanntem Namen,
Doch das Herz bleibt unbewegt.
Die Welt sieht aus wie vorher,
Doch ich hab mich leicht verschoben.
Mein Blick ist jetzt ein anderer.
Kein Ziel war’s, das mich bewegte –
Die Fahrt war mein Zuhause.
Der Passagier
Der Zug ratterte durch die Nacht, als hätte er ein Ziel. Die Räder schlugen einen monotonen Takt auf den Schienen, ein gleichmäßiges Pochen, das sich wie ein Herzschlag in das Holz und Metall des Wagens grub. Die Dunkelheit jenseits der Fenster war tief, undurchdringlich, nur hin und wieder zerschnitten von verstreuten Lichtquellen – einsame Straßenlaternen, fern flackernde Fenster eines Dorfes, das für den Zug nicht mehr war als ein Schatten in der Nacht. Der Wagen vibrierte leicht bei jeder Weichenüberfahrt, als würde er sich kurz schütteln, um dann wieder in seinen ewigen Rhythmus zurückzufallen.
Karl saß am Fensterplatz, starrte in das Dunkel, das ab und zu von fernen Lichtern durchbrochen wurde. Sein Spiegelbild schwebte geisterhaft auf der Glasscheibe, verzerrt durch Tropfen von Kondenswasser. Er sah müde aus, aber nicht nur körperlich. Es war eine tiefere Erschöpfung, eine, die sich nicht mit Schlaf beheben ließ. Sein Gesicht wirkte blass im trüben Licht der Abteilbeleuchtung, seine Züge eingefallen, als hätte ihn die Reise selbst langsam verschluckt, ihm mit jedem Kilometer ein weiteres Stück seiner Lebenskraft genommen. Der Schal um seinen Hals war locker gewickelt, als hätte er ihn längst vergessen, und seine Finger ruhten kraftlos auf seinen Oberschenkeln.
Die Frau gegenüber blätterte in einer Zeitschrift, die nach billigem Papier roch. Ihre Hände waren schmal, aber von feinen Linien durchzogen – Hände, die Geschichten erzählen könnten. Ein junger Mann schräg gegenüber hatte die Augen geschlossen, Kopfhörer in den Ohren, den Kopf gegen die kalte Fensterscheibe gelehnt. Er wirkte seltsam entrückt, als wäre er bereits an einem anderen Ort, losgelöst von der Enge des Zugabteils, fortgetrieben von einer Melodie, die nur er hören konnte. Niemand sprach. Niemand schien zu wissen, wohin die Reise führte. Oder es interessierte sie einfach nicht.
Karl zog ein vergilbtes Ticket aus seiner Jackentasche. Die Ecken waren abgenutzt, als hätte es viele Reisen hinter sich. Doch es war für eine bestimmte Fahrt – für diese Fahrt. In einer anderen Zeit hatte er geglaubt, dass diese Reise ihn irgendwohin bringen würde, wo etwas Neues auf ihn wartete. Jetzt kam ihm dieser Gedanke naiv vor. Früher war Reisen eine Flucht gewesen, ein Aufbruch, ein Versprechen. Jetzt war es nur noch eine Bewegung ohne Ziel, ein permanenter Übergang zwischen Orten, die ihm nichts bedeuteten. Er drehte das Ticket zwischen den Fingern, betrachtete die ausgebleichten Buchstaben. Ein Name, ein Datum, eine Uhrzeit. Mehr nicht.
„Fahren Sie nach Hause?“ Die Stimme gehörte zur Frau mit der Zeitschrift. Ihre Augen waren von einem sanften Grau, als hätte sie selbst schon viel gesehen.
Karl überlegte kurz. „Ich weiß es nicht“, antwortete er schließlich. Seine eigene Stimme klang ihm fremd, als hätte er sie lange nicht mehr benutzt.
Ein kurzes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Manchmal ist das der beste Weg.“
Sie schlug die Zeitschrift zu und legte sie auf ihren Schoß. „Es gibt so viele Wege, nicht wahr? Manche nehmen einen direkten, andere einen Umweg. Und dann gibt es noch jene, die fahren, ohne zu wissen, wohin.“ Sie betrachtete ihn mit einem Ausdruck, der weder Mitleid noch Neugier war – eher eine stille Erkenntnis.
Karl fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Vielleicht bin ich einer von denen“, murmelte er.
„Das sind wir doch alle irgendwie.“ Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und sah aus dem Fenster, als könnte sie zwischen den dunklen Schatten der vorbeiziehenden Landschaft eine Antwort finden. „Ich bin einmal nach Süden gefahren, ohne Plan, einfach nur, um wegzukommen. Ich dachte, ich könnte mich irgendwo neu erfinden. Aber am Ende war ich nur ich, in einer anderen Stadt.“
Karl nickte langsam. „Und, haben Sie Ihren Weg gefunden?“
Sie lachte leise. „Ich habe gelernt, dass der Weg nicht das Problem ist. Es ist die Richtung. Manchmal merkt man erst unterwegs, dass man falsch abgebogen ist. Und manchmal gibt es keinen falschen Weg. Nur einen, den man geht.“
Der Zug bremste leicht, der Rhythmus der Räder veränderte sich. Karl drehte den vergilbten Fahrschein zwischen den Fingern. Wie oft war er schon unterwegs gewesen, ohne wirklich anzukommen?
Draußen zog eine dunkle Landschaft vorbei. Schatten von Wäldern, karge Felder, auf denen einsame Windräder sich träge drehten, als kämpften sie gegen die Schwere der Nacht. Eine einsame Tankstelle tauchte auf, ihr kaltes Neonlicht warf harte Schatten auf den Asphalt, wo kein Auto hielt. Der Zug fuhr vorbei an verlassenen Güterbahnhöfen, an rostigen Waggons, die in der Kälte schlummerten, als wären sie für immer abgestellt. Fabrikhallen, deren Fenster zerborsten waren, als hätten sie längst ihren Sinn verloren. Dazwischen tauchten Häuser auf, einige mit warmem Licht hinter den Gardinen – ein flüchtiger Blick in fremde Leben, in Momente, die Karl niemals verstehen würde. Orte, die ihn nicht kannten. Orte, die ihn nicht hielten.
Ein Bahnhof tauchte in der Ferne auf, das fahle Licht der Bahnsteiglampen schien in das Abteil. Der Lautsprecher krächzte den Namen der Station, ein Name, den er kannte, aber mit dem er nichts verband. Karl schloss kurz die Augen. Es wäre leicht, einfach sitzen zu bleiben, weiterzufahren, sich treiben zu lassen – ein Passagier in einem Zug ohne Ziel.
Die Frau sah ihn noch einmal an, als wüsste sie genau, was in ihm vorging. „Vielleicht geht es nicht ums Ankommen. Vielleicht ist es die Fahrt, die zählt.“
Karl blickte aus dem Fenster, sah die Lampen der Station immer näher kommen. Vielleicht hatte sie Recht.
Ein Windstoß wirbelte Papierfetzen über den Bahnsteig. In einem kleinen Wartesaal saß ein Mann mit gesenktem Kopf, einen dampfenden Kaffeebecher in den Händen. Ein streunender Hund trottete am Gleis entlang, die Nase tief über dem Beton. Karl fragte sich, wie viele Menschen an solchen Stationen gewartet hatten – auf einen Zug, auf einen Menschen, auf eine Entscheidung.
Er seufzte leise. Vielleicht war er selbst ein Passagier geblieben. Immer auf dem Weg. Nie am Ziel. Und vielleicht war das in Ordnung.
Eduard Schlaffer, geb. 1948, lebt in Wien und Deutsch Schützen (Südburgenland)
Pensionierter Lehrer und Schulleiter, Friedens- und Glücksforscher, Mediator, Musiker, Imker und Autor.
Er gründete u. a. den Verein Bienenwerk.Plus sowie die Drei-Sterne-Bewegung zur Förderung von Gemeinwohl, Solidarität und Nachhaltigkeit. Sein künstlerisches Schaffen bewegt sich zwischen Lyrik, Prosa und Musik, stets getragen von der Suche nach dem Verbindenden im Menschlichen.
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