Frederik Wolfgang Kloiber für #kkl51 „Passagier“
Ein leerer Waggon mehr …
In meinen Händen halte ich ein Paar Tickets für ein Konzert. Schon am Überlegen, gegen was ich sie eintauschen könnte, klingelt das Telefon. Eine gewisse, zu gut informierte weibliche Person mit gefährlichen Augen und einem Talent, zu schnurren wie ein Kätzchen, flötet ein mir sehr bekanntes „Hallöööchen“ in die Horchmuschel.
››Aha!‹‹, antwortete ich entnervt und mit zunehmendem Reizfaktor gut hörbar in meiner Stimme.
Ihr Geschnurre erreichte seinen Höhepunkt nach genau 5 Minuten und 31,5 Sekunden. Unnötig zu erwähnen, dass sie die Tickets bekam, alleine schon, um sie zügig loszuwerden. Gott mag gerne zu einer Anhörung geladen werden, in der es um dieses Geschnurre geht, das so amüsant nervtötend sein kann!
Später kam sie dann bei mir vorbei. Ja, das Geschnurre ging weiter und ich hatte den Drang, ihr ein Leckerli anzubieten. Letztendlich brachten die Tickets eine hübsche Summe ein und die schnurrende Lady schnappte sich mit ihren fixen Tatzen 25 Prozent.
Ich bin früher gerne Zug gefahren. Das Geräusch, das immer dann erklang, wenn der Waggon über die Schienen eilig huschte? Ein entspannendes, melodisches Geräusch bei dem ich jedes Mal einschlafen konnte. Heute meide ich es Zug zu fahren. Die Flüchtlinge? Nicht ganz aber ein Teil dieser Entscheidung. Viel eher aber erinnern mich Züge an die Fehlentscheidungen der Leute, die unsere Gesellschaft bewegen.
Ich kann mich immer weniger des Gefühls erwehren, dass ich nur dann eine Fahrkarte für diesen neuen Zug bekomme, wenn ich dieser Werbung entspreche, die ähnlich einer sexuellen Belästigung, Tag für Tag, vor meine Füße geschleudert wird.
Der Widerspruch? – Das Extrem? – Der Zwang? Immer öfter habe ich das Gefühl, dass meine lieben Mitbürger ihre Freiheit je nach Gusto an der Garderobe der Diktatur abgeben. Und dann?
Entscheidung? Alles zielt darauf ab, eine Entscheidung aus einer Person herauszupressen. Entscheide dich! Jetzt! Das Bild einer japanischen U-Bahnhaltestelle sprang aus meiner Erinnerung in meine gegenwärtigen Gedanken. Ja, so ist es! Menschen werden von anderen Menschen in den U-Bahn-Waggon geschoben, gepresst, bis die Türe geschlossen werden kann und es kein Entkommen mehr gibt.
Entscheidung ist ein Enigma, das nicht vergibt, wenn man die Lösung nicht kennt. Ein Labyrinth mit Wänden, die sich verschieben, neu anordnen und dich einsperren können. – Dann kommt die Zeit und frisst dich auf! Warten auf eine neue Passage, einen Weg aus dem Dilemma …
In den letzten Jahren hatte ich meinen leeren Waggon zu schätzen gelernt. Kein „Geminze“ und kein Stress. Ein Rückzug von aller lautstarken Gesellschaft und ihren obszönen Forderungen. Keine Diskussionen, die mir nicht gefielen, und vor allem niemand, der auf mich einschwatze. Keine Menschen in meinem privaten Bereich, die ohne Rücksicht auf Verluste untereinander interagieren.
Erinnert mich an zwei Burschen, die unverblümt einander vorschlugen, das Alter auszutricksen und das mit blauen Pillchen.
Der Jüngere und scheinbar auch geistig noch etwas entfremdete der beiden Burschen meinte zu seinem Kollegen, der auch nicht viel intelligenter zu sein schien: ››Alter! Wenn ich mal über fünfzig bin, dann bau ich mir blaue Pillchen und rocke die Ischen, bis ihnen der Schlüpfer abfackelt! ‹‹
Ich allerdings bin eher der Meinung, dass der kleine Junge beim Anblick einer nackten Frau
bestenfalls heißeste Schnappatmung und schlechtestenfalls Nasenbluten mit kurzfristiger Bewusstseinsberaubung hat. Falls er es überlebt, ist anzunehmen, dass die entkleidete Frau entweder längst erfroren ist oder Reißaus genommen hat. Das große Maul wird’s nicht richten. Während also die beiden Jungs über den richtigen Umgang mit den Bitches philosophierten, so war ihre Bezeichnung des Femininen, saß ich neben der Dominatrix des Schnurrens, die mit zunehmendem Amüsement das jugendliche Gefasel zur Kenntnis nahm.
Der ältere der beiden Jugendlichen proklamierte lautstark und mit aus dem Busen hüpfendem Selbstbewusstsein: ››Wir werden die Bitches rulen!‹‹
Unnötig zu erwähnen, dass die schnurrende Lady ihnen sauber auf die Tatzen klopfte, so dass das pubertäre Gequake rasch ein Ende fand. Schamesröte im Gesicht und hoffend, dass die nächste S-Bahn-Haltestelle in Windeseile rettend am Horizont auftauchen möge. Meine Gedanken kamen zu dem Punkt, der mir die Schweißperlen immer wieder auf die Stirn trieb. Sind wir Menschen eine Art Kuchen geworden, aus dem die nützlichen, die profitablen Teile herausgeschnitten werden für den rechtfertigenden Gott des Mammons und der Rest zum langsamen Kompostieren gegeben wird?
Manche Menschen haben die Gewohnheit, ihren ganz eigenen Selbstzerstörungs-Button bei jeder Gelegenheit zu drücken, die sich anbietet. Eine Idee ist dabei der Ausschlag, der Point of no Return. Idee – wie mir dieses Wort auf den Sack geht. Nicht weil die Idee per se schlecht ist, nein, sondern weil bestimmte Menschen Ideen kreieren, die wiederum andere Menschen in den Abgrund stürzen. Die schnurrende Lady hat mich einmal gefragt, warum ich im Gegensatz zu anderen Menschen erschreckend abweisend auf die meisten Menschen reagiere. Ich habe ihr dann die Geschichte erzählt, die ich immer wieder erzähle. Die Geschichte eines Menschen, den ich einmal sehr gern hatte, ein Mensch, der sich in eine fixe Idee hineingesteigert hatte. Im Anschluss setzte er sich in seinen Waggon und das letzte, was man von diesem Menschen hörte, war eine Einladung zur Trauerfeier. Nie wieder würde ich mir das antun wollen, das hatte ich mir geschworen. Es dauert immer nur zehn Sätze und man weiß, mit wem man es zu tun hat. Die Zeichen dabei sind unübersehbar. Man muss nur zuhören …
Ich hielt meinen sozialen Kreis überschaubar. Menschen mit Lebenserfahrung und kein sinnloses Freunde Konzept, das zu nichts führt. Die Bekannte eines langjährigen Freundes, mit dem ich Schach spiele, nannte mich einmal einen Narzissten. Man hatte mich schon viel genannt, aber Narzisst? Wie bereits erwähnt, ist die schnurrende Lady öfters bei mir. Sie ist auch der Grund, warum mich das andere Weib als Narzissten gebrandmarkt hatte. Erstaunlich hierbei ist die Tatsache, dass ich jetzt kein Beau bin! Grau wie die sprichwörtliche Maus. Etwas lichter werdendes Haar und bei Gott, ich hüpf nicht wie eine tollwütige Springnatter vierzig Mal die Woche ins Fitnessstudio. Durchschnittlicher Kerl ohne Beautykoffer und den Drang, ein eigenes Regal für irgendwelche Pflegeartikel im Bad aufzustellen. War sowieso erstaunt, als ich von diesem Zwischenfall Notiz nahm.
Das durchtriebene Luder mit den scharfen Krallen ließ wirklich nichts aus, um zum Kassieren zu kommen. Alexi, der Kollege, mit dem ich Schach spiele, hatte dieses Weib mitgebracht, mehr aus Zwang denn aus wirklich freiem Willen. Die schnurrende Lady mochte sie vom ersten Augenblick kein bisschen. Die beiden schlichen mit bösartigen Gelüsten umeinander, als wollten sie sich eine überbraten!
Der Höhepunkt dieser Interaktion zweier Frauen, die den Kriegspfad wandelten, war eine Orgie von Ohrfeigen, die die Besitzerin wechselten. Die Tirade diverser Bezeichnungen für unschöne feminine Eigenschaften und Berufe flog durch den Raum, wie die Geschosse von Panzern über das Schlachtfeld fliegen. Der Rest unserer illustren Gesellschaft besah dieses Wortgefecht mit zunehmendem Amüsement. An diesem unheilvollem 4. November ’22 wurde ich Zeuge zweier Tatsachen: 1. Frauen können untereinander ziemlich bösartig werden. 2. Wenn Frauen der Meinung sind, dass ihnen etwas gehört, dann wäre es einer Außenseiterin zu empfehlen, die Tatzen von den Besitztümern der anderen zu lassen.
Ich sah damals Alexi an und fragte etwas beunruhigt: ››Deine Bekannte weiß schon, auf was sie sich da einlässt?‹‹
Alexi gab mir damals keine Antwort und ich fragte auch kein zweites Mal. Was ich aber lernte, war, dass man niemanden kannte, ehe diese Person zuließ, dass man sie kennenlernen durfte. Alexi beendete den Streit mit nur einem einzigen eiskalt gesprochenen Wort: ››Verschwinde!‹‹
Sie verschwand und das wortlos. Alles beruhigte sich und die schnurrende Lady kam zurück zu ihrer Ruhe, die ich sehr schätzte.
Das Konzept des leeren Waggons? Alexi befragte mich einige Zeit später danach und ich erklärte ihm, dass jeder Mensch, der in sein Leben treten würde, ein Passagier sei. Die Kunst hierbei wäre, zu erkennen, wen man in sein Leben ließe. Menschen besitzen die Fähigkeit, sich zu verstellen und mehr Schaden anzurichten, als sie an Nutzen bringen. Alexi störte sich an dem Wort „Nutzen“ und ich fügte noch an, dass „Nutzen“ per se nichts Negatives bedeutete. Es ginge mir bei meinem Konzept um Ergänzung und Wertschätzung. Wenn ich etwas sein muss, um Affinität zu bewirken, dann verzichte ich auf diese Affinität.
Alexi nickte und während ich endlich einmal gegen ihn im Schach zu gewinnen schien, da erklärte er mir, dass er die Krallenlady eigentlich gern mochte und ihm das Ganze sehr leidtäte … Ich wusste, dass ihm das schwerfiel, also unterließ ich es, dieses Thema zu vertiefen.
Alles sei so verdreht heutzutage. Man macht die Menschen zu Sklaven, zwingt sie in Gruppen und verweigert ihnen den Zugang zu ganz normalen Dingen. Alexi wirkte sehr nachdenklich. Er hatte recht, mir fällt dazu immer das Beispiel der Frau ein. Wer sagt, dass eine Frau nicht auch mit Falten schön sein kann? Warum müssen Frauen einen Farbkasten von der Größe eines Craftsman-Werkzeugschranks besitzen, um als schön zu gelten? Warum zwingt man sie zum Hungern, um in irgendwelchen Fummel zu passen, der am anderen Ende der Welt für ein paar Cent geschneidert wird?
In meiner Welt würde eine Frau ihr ganzes Leben schön sein. Nicht durch Make-up und Schönheits-OPs, sondern um die Wärme und Güte willen, die ihr innewohnt. Seien wir einmal ehrlich: Am Ende geht es denen, die uns zusammengekrampft in Waggons ihres Gustos stecken wollen, doch nur um eines – Geld! Die Opfer werden dabei zerstört, traurig aber wahr … Ein leerer Waggon erlaubt uns allen eine Wahl!
Frederik Wolfgang Kloiber, Schriftsteller – Essayist – Poet, geboren am 11. August 1978 in Nordbayern, in unmittelbarer Nähe zur Grenz der ehemaligen DDR… Der Autor verlebte eine glückliche Kindheit, die von einer Leidenschaft zu Büchern geprägt war. Wie in jedermanns Leben, kam es auch im Leben des Autors zu Schicksalsschlägen. Einer dieser Schicksalsschläge führte den Autor in Berührung mit den Werken von Franz Kafka, die bis zu heutigen Tage für den Autor von entscheidender Bedeutung sind. Findet er in Kafkas Zeilen seinen Frieden, die Kraft selbst zu schreiben.
Letzte Veröffentlichung(en)
2020 „Feuer im Ghetto“ – Anthologie Ulrich Grasnick Lyrik Preis 2021 – ISBN:978-3-947215-96-6
Aktuelle Veröffentlichung – Der vernunftbegabte Narr, der denkt – #kkl-Magazin
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