Patrick Kühnel für #kkl51 „Passagier“
Gibt es ein Leben danach?
Wir lassen uns direkt hinter einem jungen Paar mit quengeligen Kind nieder, unsere Sitze sind mit buntem zerschlissenem Stoff bezogen. Sie passen zu dem Eindruck, den ich schon beim Blick vom Boarding Gate auf die Maschine hatte: Rostflecken, abgeblätterter Lack. überstrichene Logos.
Gurtschnallen klacken, heiteres Gemurmel von Passagieren, die noch nach ihrem Platz suchen. Über dem Gang ein Schild mit kyrillischer Aufschrift: аварийный выход…Notausgang. Stört die Chinesen das nicht, haben sie keine Sicherheitsbedenken? Mir fällt ein Artikel in der Volkszeitung ein: staatliche Luftfahrtgesellschaft tauscht zwei Güterwagen mit Rindfleischkonserven und Nylon-Strumpfhosen gegen ausgemusterte Aeroflot-Maschinen ein… ist das hier womöglich eine davon? Mein Puls beschleunigt sich leicht, ich werde meine Flugangst auch vor Fei nicht verstecken können. Bereue ich meine Entscheidung schon? Am Gate hätte ich noch umkehren können…
Fei ergreift meine Hand. Ich hebe den Kopf und ihr warmes Lächeln empfängt mich..
Oh Gott, wie ich sie liebe! Seinem Schicksal muss man sich stellen. Entweder bindungslos ja zu ihr oder ein ewiger Jüngling bleiben. Zupacken wie Captain Hook oder herumflattern wie Peter Pan. Diese Reise muss die Entscheidung bringen, Rückzug kommt nicht in Frage, es geht um mein Leben…
…der Gedanke an den bevorstehenden Flug verursacht mir Übelkeit.
Langsam setzt sich die Maschine auf dem Rollfeld in Bewegung. Von meinem Fenstersitz aus sehe ich die beiden rot leuchtenden Schriftzüge 北京des Pekinger Hauptstadtflughafens vorbeiziehen. Wir rollen an einem Spalier aus weiß- oder buntlackierten Flugzeugen entlang, die alle vertrauenswürdiger aussehen als das unsere.
Um meine Nervosität zu überspielen frage ich Fei nach der Entfernung unseres Zielortes Yantai.
„Nur eine Stunde“.
Der Satz soll mich beruhigen, doch er tröstet mich nicht.
Zeit ist der falsche Maßstab für einen Sprung in ein anderes Leben, eine andere Welt. Menschen sterben daran.
Turbinen heulen auf, kurz darauf ein Ruck. Der Schub der Triebwerke presst mich in den Sessel, alle Gedanken schwappen aus dem Bewusstsein. Als ich wieder zu mir komme rennt mein Puls. Fei drückt meine schweißnasse Hand. Ich verstehe ihre Botschaft, doch sie nützt nichts, im Raum der Angst ist jeder mit sich allein.
Das Dröhnen nimmt zu. Nur das Dröhnen. Als ich aus dem Fenster blicke scheint es, dass wir kaum schneller werden. Stattdessen sehe ich die Startbahnmarkierungen unter dem Rumpf der Maschine rhythmisch auftauchen und verschwinden. Ist das normal? Die Maschine fährt in Schlangenlinien! Plötzlich pulsiert meine Halsschlagader als wäre mir das Herz in den Kehlkopf gerutscht. Tatsächlich, das Schlingern wird stärker, kaum merklich beginne ich im Sitz hin- und herzugleiten. Das ist gar nicht normal, die Geschwindigkeit ist viel zu niedrig. Ich blicke zu Fei. Hat sie es bemerkt? Wieder drückt sie meine Hand, doch ihr liebgemeintes Lächeln prallt an der Panik ab, die mein Innerstes inzwischen wie eine eisige Kruste umklammert. Ich drehe den Kopf nach links, mein Blick fällt durch das Fenster auf die schwankende Tragfläche. Dort, die Auftriebshilfen! Zaghaft zucken sie beim Versuch, auszufahren – und ersterben, wieder und wieder.
Hektisch schweift mein Blick über die Passagierriehen, die Fröhlichkeit ist verschwunden, kaum einer spricht, angstvolle Unruhe in den Mienen. Köpfe versuchen den schwankenden Körpern zu trotzen. Ich krampfe mich an meine Armlehnen, als könnte ich dadurch die Maschine stabilisieren, geraderichten, Druck unter die Flügel bringen…unmöglich, jetzt zu bremsen, und hinter der Startbahn? Häuser, Straßen, Brücken…
Dann ein Ruck, die Maschine hat den Boden verlassen, Druck in meinem Unterleib und die Gedanken rasen, ist das gut oder schlecht? Ich will aus dem Fenster schauen, spüre im selben Moment, wie sich das Flugzeug kippt, meine linke Körperhälfte scheint ins Bodenlose zu fallen, die Tragfläche gleitet aus meinem Blickfeld, eine steingesprenkelte Ackerfläche zum Greifen nah.
… mein frisch ausgehobenes Grab…
Hysterisches Kreischen, Geschrei von Kindern, meine Schlagader scheint zu platzen.
Jetzt nach rechts, ich pralle gegen das Fenster, fühle den Sitz unter mir wegrutschen – Felder, Berge, der blaue Himmel, Leere – Schwindel ergreift mich – von fern tönen Schreie der Passagiere.
…rauchende Trümmer, Fetzen von Dasein, Spielzeug und verkohlte Menschenbrocken, verstreut auf einer Wiese… kurz nach dem Start verlor der Pilot einer Boeing 737 die Kontrolle über die Maschine….
Feis Lächeln. Ich hätte das Glück mit ihr verdient gehabt.
…
Nur das leise Brummen der Triebwerke ist zu hören. Niemand wagt eine Bewegung oder ein Geräusch, nicht einmal ein Husten, aus Angst, das fragile Gleichgewicht der Maschine zu stören. Ich halte die Lider geschlossen, kauere in meinem Sitz nervös lauschend auf jedes verdächtige Geräusch, heimlich darum betend, es möge ausbleiben. Da spüre ich, wie Fei mit beiden Händen meine rechte Hand umfasst. Dann ihr Flüstern an meinem Ohr: „Keine Angst, solange ich bei Dir bin, wird dir nichts geschehen“. Zärtlicher als je.
Aus dem Lausprecher quäkt die Stimme des Kapitäns Der Landeanflug hat begonnen. Unwillkürlich gleitet mein Blick aus dem Fenster, doch noch bevor ich die Landeklappen finde, fühlt mein Körper die Antwort auf die ungestellte Frage: Es ist wieder da. Kaum wahrnehmbar zuerst, wie ein sanftes Wiegen. Doch bald schon habe ich Mühe, die Schaukelbewegungen auszugleichen. Im Fenster hebt und senkt sich der Horizont, anschwellendes Raunen, ängstliche Rufe spritzen daraus hervor, Kindergeschrei, plötzlich knallt mein Kopf links gegen das Fenster, rechts schlägt es mir die Armlehne in den Magen, Stimmen kreischen um Hilfe…Himmel, Berge, Asphalt, Berge… ein Herbstblatt dem Boden entgegen taumelnd. Herr, lass es zu Ende gehen.
…
Als wir am Förderband auf unser Gepäck warten, bemerke ich unweit von uns drei Männer in Luftfahrtuniform, die sich schleppend Richtung Ausgang bewegen. Kreidebleich der erste, dem zweiten klebt das Hemd am Körper, der dritte folgt lachend – er klingt wie ein Irrer.
Fei folgt meinen Blick. „Ich habe es Dir doch gesagt, solange ich bei Dir bin, wird dir nichts geschehen.“ Dann küsst sie mich. Zärtlicher als je.
15 Jahre hat sich Patrick Kühnel (geb. 1970) durch die verschiedensten Fächer von Islamwissenschaft über Jura bis Mathematik studiert, sich als Fensterputzer, Straßenmusiker und Projektmanager in der Automobilindustrie verdingt, mehrere Jahre in Ostasien verbracht bis er 2005 schließlich in Allgemeiner Linguistik promovierte und schließlich im akademischen Betrieb landete. Zurzeit lebt er mit seiner deutsch-chinesischen Familie in Peking. Das Leben ist für ihn ein Kaleidoskop aus ungelebten Geschichten und Identitäten, aus dem er ab und zu einen gestaltlosen Splitter herausreißt, um ihn sprachlich ins Sein zu zwingen.
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