Christian Schwetz für #kkl51 „Passagier“
Exposé vom Buch des bisher Unsterblichen (von den Menschen und ihrer Sprache)
Ein (bisher) Unsterblicher erzählt die Geschichte der Menschheit, wobei sich die Sprache des Romans fließend dem Zeitstrom anpasst.
Er weiß nicht, warum er (bisher) unsterblich ist und war, er weiß nur, dass er sich erinnern kann, viele tausend Jahre mit seiner Sippe durch die Savannen gestreift zu sein. Er glaubt, sich erinnern zu können, dass sie 34 Wörter verwendet haben, seit er sich erinnern kann und lange, sehr lange nicht mehr.
Er kann sich erinnern, in welcher Reihenfolge die Wörter 35 bis 41 dazu gekommen sind, einige durch Menschen einer anderen Großsippe, andere wurden in seiner Gruppe geboren, weil Worte auf die Welt kommen, wie Menschen.
Er versucht sich daran zu erinnern, wie er die Welt damals wahrgenommen hat, was nicht leicht ist, weil alles, was er in den tausenden Jahren seither an Halbwahrheit oder Viertelwahrheit gedacht hat, zwischen damals und seinem Erinnern herumrollt.
Vielleicht ist es mit der Wahrheit so wie mit ihm, sie streift durch die Jahrtausende, irgendwie bleibt sie dieselbe, aber irgendwie kann sie gar nicht anders, als sich von der Zeit abschleifen zu lassen. Ja, der bisher Unsterbliche kommt immer wieder ins Philosophieren, wenn er die Geschichte von den Menschen und ihrer Sprache erzählt.
Er erzählt von seinem ersten out of Afrika, obwohl es – wie er der Wissenschaft glaubt, nicht das erste out of Arfika der Menschenähnlichen war. Er erzählt von seiner jahrhundertelangen Reise nach Europa. Er glaubt der Wissenschaft, dass er zu einer Zeit in Europa angekommen ist, wo er noch Neandertalern hätte begegnen können, aber er ist keinen begegnet. Er hat in den langen Jahrtausenden auch Medizin und Gentechnik studiert, aber er hat es bisher noch nicht über sich gebraucht, seine eigenen Gene zu analysieren. Er müsste– theoretisch – der einzige Nicht-Afrikaner sein, der kein Fuzel Neandertaler-Ge in sich hat…, aber er will es gar nicht so genau wissen.
Er würde gerne wissen, ob er der einzige bisher Unsterbliche ist oder ob da andere sind oder waren. Da es so viele Geschichten über sie gibt, ob jetzt als ewiger Jude oder als Highlander, die nicht er sich ausgedacht hat, sondern andere, könnte es sein, das da andere sind oder waren, aber er ist nie einer oder einem begegnet.
Er erzählt, wie schwer es war, und war und war und nach Jahrtausenden immer noch ist, wenn Menschen, die er liebt neben ihm alt werden, wenn seine Kinder neben ihm alt und immer älter werden. Daran hat er sich noch nicht gewöhnt und wird sich nie daran gewöhnen, obwohl es manchmal leichter ist und manchmal noch schwerer als sonst.
Er erzählt von den ersten Kriegen. Das Paradies hat er nie gesehen, schon vor dem Sündenfall der neolithischen Revolution hat es Brüder gegeben, die ihre Brüder mit und ohne erkennbaren Grund umgebracht haben.
Mit der Sesshaftigkeit ist das Eigentum gekommen, das hat auch die Sprache mehr verändert als das langsame Tropfen der Zeit davor, die langsamen Entwicklungen von einem Steinmesser zum Besseren.
Und mit dem Sesshaft werden der anderen sein immer wieder weiterziehen, um nicht als Dämon, Hexe oder Außerirdischer getötet zu werden, von seiner Sippe, seiner Familie, den Nachbarn, die neben ihm alt und älter geworden sind, während er sich nicht merklich verändert hat.
Wenn er vom Sündenfall der neolithischen Revolution spricht, kommt er ins Philosophieren, ins Wüten, ins Rasen, der Schmerz und die Ungerechtigkeit vieler Jahrhunderte purzeln durch seinen Kopf, so dass es ihm schwerfällt, bei der Sprache von damals zu bleiben.
Der Sündenfall führt ihn zu den Göttern, den ersten, den zweiten, den dritten, aber kein Gott, keine Göttin war je so bösartig, wie einzelne Menschen, die sich als Priester und Priesterinnen über die Götter, an die sie selbst nicht geglaubt haben, gestellt haben. Und kein Jesus, kein Buddha, kein Marx war gut genug, diesen Priesterinnen und Priestern zu entgehen. Aber am schlimmsten waren immer die, die geglaubt haben, das richtige, das wichtige zu tun.
Jesus hat er nicht persönlich gekannt und Buddha auch nicht, aber zumindest Marx und Engels. Mit Engels hat den bisher Unsterblichen eine Art Freundschaft verbunden. In der Liste der 500 besten Freunde in seinem Leben, nimmt Friedrich Engels immerhin Rang 474 ein. Knapp, aber er hat es in die Liste geschafft.
Und wer weiß, vielleicht wagt der bisher Unsterbliche am Ende auch einen Blick in die Zukunft. Die Zukunft der Menschen, die Zukunft der Sprache. Die wird sich weiter verändern, auch nach James Joyce, nach Ernst Jandl, nach Elfriede Jelinek. Und da mitzuspielen, gehört zu den wenigen Dingen, die den bisher Unsterblichen nach all diesen Jahrtausenden noch immer interessieren.
Er weiß nicht, was das erste Wort war, er war ganz am Anfang nicht dabei. Und er glaubt immer noch nicht, dass er das letzte Menschenwort miterleben wird, obwohl die Wahrscheinlichkeit immer größer wird.
Christian Schwetz, geb. 30.12.1962, lebt und arbeitet in Wien.
Seit den 1980er Jahren ist er literarisch aktiv. Als Fazit seiner Diplomarbeit „Die wirtschaftliche Lage der Schriftsteller in Österreich“ beschloss er, das Schreiben nicht zum Hauptberuf zu machen und wurde Steuerberater.
Er ist Gründungs- und Vorstandsmitglied von „DAS SPRECH-Initiative für Sprach-, Sprech- und Hörkunst“.
Mit der Band „Novi Sad“ besteht seit den 1990er-Jahren eine künstlerische Zusammenarbeit.
Veröffentlichungen
2010 „Zwischen Brot und Spiel“; Kurzgeschichten; Testudoverlag
2011: „Traanbecks Ausnahmezustand“; Roman; Arovell-Verlag
2014: „Mails & Love“; Roman; Arovell-Verlag
2016: „Am Anfang war das A“; Textsammlung; Edition Libica
2021: „Wunderschönes Tier“; Textsammlung; Edition Libica
sowie in diversen Anthologien und Zeitschriften.
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