Christa Blenk für #kkl51 „Passagier“
Das Floß der Medusa
Das Floß treibt auf offenem Meer. Land ist nicht in Sicht. Von den ursprünglich 149 Passagieren sind in den vergangenen 13 Tagen bereits 134 dem Hunger, Durst und Wahnsinn erlegen. Die Männer sind in Lumpen gekleidet, die Toten nackt. Die Menschenpyramide rechts im Bild weist auf die Unmenschlichkeit des Tathergangs hin. Auf der Spitze dieser Menschenpyramide steht ein Mann, bekleidet mit einem Lendenschurz, der wild mit seinem Hemd auf sich aufmerksam machen will. Wasserfässer sind in die Pyramide eingebaut und zu diesem Zeitpunkt bereits leer. Andere winken mit Tüchern oder Fetzen, wahrscheinlich schreien sie, um auf sich aufmerksam zu machen. In der Ferne erkennt man das Rettungsschiff, die Brigg Argus. Links im Bild liegen die Erschöpften. Sie beteiligen sich nicht mehr an den Hilferufen. Sie haben aufgegeben. Ein Segeltuch am Mast bläht sich im Wind. Einige Männer schützen sich unter einer großen Plane um den Mast. Es ist stürmisch, die Wellen schlagen bedrohlich hoch. Der Himmel ist voller dunkler Wolken, zwischendurch blitzen kleine Lichtgewitter oder der Sonnenaufgang auf. Die Segel blähen sich. Die Hälfte der Bildfläche gehört dem Floß. Es ist aufgeteilt in eine Diagonale und eine Horizontlinie. Eine Floßecke zeigt auf den Betrachter. Der Himmel spielt eine Hauptrolle. Körper hängen halb im Wasser, drohen, ganz hineinzufallen. Géricault hat nicht genug Platz auf seiner Leinwand, um all die zu verewigen, die schon Tage vorher im Wasser landeten oder dafür sorgten, dass andere überleben konnten. Braun, Grau und Schwarz und schmutziges Weiß sind die Hauptfarben. Die weißlich-blassen Körper setzen Lichtpunkte und machen aus dem Gemälde eine manieristische Chiaroscuro Szene. Vorne unterbricht schäumende Gischt das schwarze, unheilvolle Atlantikwasser. Das Floß liegt schief im Wasser und hat wenig Spielraum im Bild, wirkt allerdings stabil, obwohl es ja in nur kurzer Zeit gebaut wurde. Mit Wasser und Essen hätten die Menschen auf dem Floß Medusa durchaus längere Zeit durchhalten können. Die Stimmung auf dem Bild ist unwirtlich, bedrohlich, düster. Géricault hat die Wetterverhältnisse dramatischer gemalt als sie in Wirklichkeit waren. Die Schiffbrüchigen auf dem Floß der Medusa litten vor allem unter zu starker Sonne, Flaute und fehlendem Trinkwasser, Hunger. Aber eine ruhige, wolkenlose Fahrt passte nicht zu dem Geschehen und würde das Publikum weniger beeindrucken. Laut Aussagen der paar Überlebenden war die See ruhig, windstill. Die von Géricault gemalte Weltuntergangsstimmung passierte vor allem in den Köpfen der ums Überleben Kämpfenden. Wieviel Personen sich auf Géricaults Floß befinden, lässt sich nicht genau feststellen. Aber es scheinen mehr als 15 zu sein. Das Floß muss auch viel größer gewesen sein, um ursprünglich 149 Schiffbrüchige aufnehmen zu können. Was die Besetzung der Argus bei der Rettung nach zwei Wochen zuerst für Fetzen des Segels hielt, waren in Wirklichkeit in Stücke geschnittenes Menschenfleisch, das zum Dörren aufgehängt wurde.
Das Flaggschiff Medusa gehörte dem Konvoi an, der die Übergabe der Kolonie Senegal von England an Frankreich unterstützen sollte. Insgesamt 400 Personen befanden sich auf der Medusa, darunter Offiziere, Gäste, Verwaltungsbeamte, Frauen und Kinder, Forscher sowie der zukünftige Gouverneur des Senegal, Julian Désiré-Schmaltz. Der beauftragte Kapitän, Hugues Duroy de Chaumareys, war zu dieser Zeit nicht mehr als ein Salonoffizier, der seine Marine-Karriere nicht auf Hoher See, sondern in Emigrantensalons in Koblenz und London absolvierte. Kurz: der Kapitän hatte so gut wie keine Erfahrung mit dem Atlantik und war 25 Jahre nicht zur See gefahren. Schon nach ein paar Tagen auf See geriet die Medusa 50 Kilometer vor der mauretanischen Küste in Schwierigkeiten. Der unerfahrene Kapitän schaffte es nicht, das Schiff aus den trügerischen und gewaltigen Sandbänken (Le Banc d’Arguin) zu befreien. Eine Reihe von fatalen Fehleinschätzungen seinerseits steuerte die Medusa unweigerlich in eine Katastrophe. Da für 400 Passagiere nur sechs Rettungsboote zur Verfügung standen, befahl der Kapitän, aus den Masten und Rahen des Flagschiffs ein Floß zu bauen. Dieses Floß der Medusa sollte mit 149 Schiffbrüchigen von den sechs Rettungs-Ruderbooten an Land gezogen werden. Das Unterfangen stellte sich als sehr schwierig heraus und die Boote, hauptsächlich mit Offizieren und Gästen belegt, kamen nur sehr langsam voran. Schon nach kurzer Zeit erteilte der Kapitän den Befehl, die Seile zu kappen und das Floß inklusive der 149 Passagiere darauf seinem Schicksal zu überlassen. Auf dem Floß kam es schon nach ein paar Tagen zu Kannibalismus. Die Brigg Argus barg nach 13 Tagen schließlich die 15 Überlebenden, von denen fünf kurze Zeit später, schon an Land, ebenfalls verstarben.
Der Maler Géricault war dermaßen von dieser Schiffskatastrophe beeindruckt, dass er knapp drei Jahre später unter diesen Impressionen sein bekanntestes Werk schuf: „Das Floß der Medusa“. Er traf sich mit drei Überlebenden des Unglücks: einem Arzt, einem Schreiner und einem Ingenieur. Géricault arbeitete wie besessen und versuchte originalgetreu Leichen und Leichenstarre auf die Leinwand zu bringen. Dafür begab er sich in eine Leichenhalle. Er versorgte sich mit amputierten Gliedmaßen, um deren Verwesung zu studieren. Géricault lieh sich sogar einen abgetrennten Kopf aus einer Irrenanstalt. All diese Eindrücke hielt er in vorbereitenden Zeichnungen fest. In Le Havre und bei einer Überquerung des Ärmelkanals studierte er die See und den Himmel. Seinen ursprünglichen Plan, mehrere Momente dieser inhumanen Katastrophe darzustellen, verfolgte er nicht und beschränkte sich schließlich darauf, den letzten Tag vor der Rettung auf seiner Leinwand zu verewigen.
Obwohl Théodore Géricault (1781-1824) seinerzeit einen unverfänglicheren Titel wählte und sein Mammutwerk „Szene eines Schiffbruchs“ nannte, rief das Bild bei Bevölkerung und Regierung unangenehme Assoziationen an eine Tragödie auf Hoher See hervor, an die niemand erinnert werden wollte. Der Künstler malte mit dem Bild „Das Floß der Medusa“ eine schreckliche Episode der französische Marinegeschichte und kritisierte damit die Regierung der Borbonen. Dieser „Schiffbruch“ führte 1816 zur Entlassung des Marine-Ministers und von 200 Offizieren.
Heute zählt das Gemälde zu den Meisterwerken der französischen Malerei.
Musiker und Schriftsteller haben dieses Thema immer wieder aufgenommen. Darunter 1968 Hans-Werner Henze in dem szenischen Oratorium „Das Floß der Medusa“.
Das Mammut-Gemälde „Das Floß der Medusa“ hängt im Pariser Louvre, entstand 1819 und misst 491 x 716 Zentimeter.
Christa Blenk lebt in Niederbayern und am französischen Atlantik. Seit ein paar Jahren veröffentlicht sie regelmäßig Kurzgeschichten/Erzählungen in Anthologien und Literaturzeitschriften und schreibt für ein Berliner Online Magazin Artikel über Reisen, Literatur, Musik und Kunst, darunter auch ihre Kolumne (https://kultura-extra.de/kunst/werkbetrachtungen.php).
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