Chantal Mäurer für #kkl51 „Passagier“
Rollende Therapiezentren
Mein Taxi ist mein rollendes Therapiezentrum, mein persönliches Kuriositätenkabinett, mein fahrendes Soziologielabor. Und ich bin die geduldige Beobachterin, die Chronisten des ganz normalen Wahnsinns, der sich Tag für Tag auf meinem Rücksitz verirrt. Heute ist auch wieder so ein Tag.
Draußen nieselt es, also die perfekte Wetterlage für Menschen, die vergessen haben, dass sie aus Zucker sind und sofort schmelzen würden, wenn sie auch nur einen Tropfen abbekommen. Der erste Fahrgast ist ein Geschäftsmann, Typus gestresster Yuppie, der ununterbrochen telefoniert – natürlich mit aktiviertem Lautsprecher, denn die ganze Welt soll ja schließlich an seinen wichtigen Details teilhaben. Er steigt ein, murmelt eine Adresse und plärrt dann wieder ins Telefon: „Nein, Herr Müller, ich sage ja, das Budget ist knapp! Ich kann da auch nichts machen. Wir müssen eben sparen.“ Ich überlege kurz, ob ich ihm vorschlagen soll, vielleicht mal das Taxi zu sparen und die paar Meter zu Fuß zu gehen, aber ich will ja nicht unverschämt sein.
Fünf Minuten später steigt eine Dame mittleren Alters ein, behangen mit so vielen Goldketten, dass ich kurz befürchte, mein Auto könnte unter der Last zusammenbrechen. Sie hat einen kleinen Hund dabei, der sofort anfängt, mein Auto zu markieren. „Ach Fiffi!“, quietschte sie. „Bist du aber ungezogen!“ Ich nicke freundlich und denke mir meinen Teil. Fiffi ist nicht ungezogen, Fiffi ist ein kleiner Terrorist, und seine Besitzerin ist seine Komplizin. Sie erzählt mir dann die ganze Fahrt lang, wie schrecklich es doch sei, dass die Jugend heutzutage keinen Respekt mehr habe. Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht zu sagen, dass sie vielleicht mal bei ihrem eigenen Hund anfangen sollte.
Als nächstes hab ich ein junges Paar im Auto, frisch verliebt und offensichtlich völlig unfähig, sich in der Öffentlichkeit zu benehmen. Sie knutschen die ganze Zeit rum, machen mir Komplimente für meine „tolle Musik“ (Radio Dudelfunk) und fragen mich, ob ich glaube, dass sie füreinander bestimmt sind. Ich antworte, dass ich eine Taxifahrerin bin, keine Wahrsagerin, aber innerlich wünsche ich ihnen viel Glück, denn sie werden es brauchen. Wahrscheinlich trennen sie sich in sechs Monaten, wenn das erste Baby da ist und die Windeln stinken. Aber was weiß ich schon. Später am Abend erwischte ich einen Betrunkenen, der mir die Ohren vollheult, weil seine Freundin ihn verlassen hat. Er will wissen, ob Frauen überhaupt lieben können, und ob er irgendetwas falsch gemacht habe. Ich sage ihm, dass er vielleicht weniger trinken und mehr duschen sollte, aber das will er nicht hören. Er weint weiter, sabbert auf mein Armaturenbrett und hinterlässt mir am Ende ein großzügiges Trinkgeld. Immerhin etwas.
Der krönende Abschluss des Tages: Eine ältere Dame, die mir aufgeregt erzählt, dass sie von Alien entführt wurde. Sie hat Beweise, sagt sie, und kramt in ihrer Handtasche nach einem Foto. Ich bin gespannt, was kommt, aber sie findet nur ihren Lippenstift und eine Packung Taschentücher. Die Aliens haben wohl auch ihren Fotoapparat mitgenommen. Ich bringe sie nach Hause und wünsche ihr eine gute Nacht. Und leise hoffe ich, dass sie nicht wieder entführt wird, bevor sie die Gelegenheit hat, mir das Foto zu zeigen.
So geht das jeden Tag, ich sitze in meinem Taxi, beobachte die Menschen und lerne, dass die Realität oft viel verrückter ist als jede Fiktion. Und manchmal, aber nur manchmal, macht mir dieser Job sogar Spaß.
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins…als Passagier
Der Mensch. Ein faszinierendes Wesen, nicht wahr? Besonders beobachtbar in seiner natürlichen Umgebung: dem Wartebereich irgendeines Flughafens, am Gleis einer Regionalbahn, oder, mein persönlicher Favorit, eingefercht in einem Flugzeugsitz der Economy Class, der so ergonomisch ist wie ein mittelalterliches Folterinstrument. Ich, ein passionierter Beobachter dieser Spezies, möchte meine bescheidenen Erkenntnisse mit Ihnen teilen.
Szene 1: Der Kampf um die Armlehne
Ach, die Armlehne! Dieses kleine Stück Plastik, das über Frieden oder Krieg in der Dreierreihe entscheidet. Es beginnt subtil. Ein unschuldiges Ausstrecken, eine zufällige Berührung. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Der linke Passagier, oft ein beherzter Rentner mit einem unerschütterlichen Glauben an sein Anrecht auf jeglichen ihm zur Verfügung stehende Raum, platziert seinen Ellenbogen mit der Präzision eines Chirurgen direkt in die Mitte. Der rechte Passagier, meist ein gestresster Geschäftsmann, kontert mit einem unauffälligen Umpositionieren seiner Aktentasche, um das Territorium zu markieren. Der arme in der Mitte? Der hat schon verloren. Er träumt von einem eigenen Privatjet, während er versucht, nicht mit einer Achselhöhle des Rentners in Berührung zu kommen.
Szene 2: Die Kunst des Nickerchens (oder der Versuch davon)
Der Flug ist lang, die Nacht kurz. Jeder Passagier versucht, ein Nickerchen zu erzwingen, das so erholsam ist wie ein Marathonlauf auf einem Laufband. Köpfe nicken synchron, wie Marionetten, die von einer unsichtbaren Hand gesteuert werden. Der vordere Sitz wird zum begehrten Anlehnsobjekt. Dumm nur, wenn der Vordermann beschließt, seine Rückenlehne plötzlich und ohne Vorwarnung in eine horizontale Position zu bringen, was den Nickerchen-Künstler unsanft in die Realität zurückholt. „Oh entschuldigen Sie, habe ich Sie gestört?“ Natürlich nicht! Ich liebe es, mit dem Gesicht gegen einen tablettgroßen Tisch geklatscht zu werden. Weiter hinten hört man ein leises Schnarchen, das sich allmählich zu einem infernalischen Sägewerk entwickelt. Man fragt sich, ob man den Passagier wecken sollte. Aber wer will schon der Böse sein, der jemandes hart erkämpften Schlaf zerstört? Lieber ertragen wir es mit stoischer Miene, während unser eigener Blutdruck gefährliche Höhen erreicht.
Szene 3: Die Epik des Handgepäcks
Boarding Time. Ein Moent der Hoffnung, der sich schnell in ein apokalyptisches Gedränge verwandelt. Jeder Passagier, bewaffnet mit einem überdimensionalen Rollkoffer und einer Handtasche, die verdächtig nach einem gefüllten Umzugskarton aussieht, versucht, seinen Platz in der Gepäckablage zu sichern. Die Regeln der Physik werden ignoriert, die Gesetze der Höflichkeit vergessen. Man beobachtet fasziniert, wie ein kleiner, zierlicher Mensch versucht, einen Koffer zu verstauen, der größer ist als er selbst. Man überlegt zu helfen, entscheidet sich aber dagegen, da man befürchtet, selbst unter der Last des Gepäcks begraben zu werden. Endlich, nach einem minutenlangen Kampf, hat jeder sein Hab und Gut verstaut. Was folgt, ist ein ohrenbetäubendes Knallen, als dutzende Gepäckfächer gleichzeitig geschlossen werden.
Szene 4: Die Symphonie der elektronischen Geräte
Kaum hat das Flugzeug die Reiseflughöhe erreicht, beginnt das orchestrale Konzert der elektronischen Geräte. Handys piepen, Tablets summen, Laptops zwitschern. Jeder Passagier taucht ein in seine eigene digitale Welt, während er gleichzeitig versucht, das kostenpflichtige WLAN zu nutzen, das so zuverlässig ist wie ein politisches Versprechen. Kopfhörer werden aufgesetzt, die Musik auf Maximum gedreht. Man hört unfreiwillig die neuesten Pop-Hits, Filmmusiken und Podcasts. Die Geräuschkulisse ist so vielfältig wie ein Regenbogen nach einem atomaren Wintersturm.
Szene 5: Die Freuden des Bordessens
Ach, das Bordessen! Dieses kulinarische Meisterwerk, das so appetitlich aussieht wie ein wissenschaftliches Experiment. Man wählt zwischen Hühnchen oder Pasta, wohl wissend, dass beide Optionen fade, trocken und von fragwürdiger Herkunft sind. Das Brötchen ist hart wie Stein, die Butter gefroren. Der Salat besteht hauptsächlich aus Eisbergsalat und einer undefinierbaren Dressing-Soße. Aber hey, immerhin ist es kostenlos oder zumindest im Ticketpreis inbegriffen. Man isst es trotzdem, denn Hunger macht erfinderisch. Und wer weiß, vielleicht entdeckt man ja ein neues Geschmackserlebnis. Zumindest hat man etwas zu lachen oder zu weinen.
Szene 6: Der Akt des Verlassens des Flugzeugs
Die Landung ist geglückt, das Flugzeug steht. Aber der eigentliche Kampf beginnt jetzt erst. Jeder Passagier, getrieben von dem unbändigen Wunsch, der Erste zu sein, der das Flugzeug verlässt, drängt und schiebt. Die Gänge füllen sich mit Menschenmassen, die so dicht gedrängt sind wie Sardinen in der Dose. Geduld ist ein Fremdwort. Man kämpft sich durch die Menge, tritt auf Füße, rempelt Arme an. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, erreicht man die rettende Gangway. Frischluft! Freiheit! Die Welt liegt einem zu Füßen. Bis zum nächsten Flug….
Und so dreht sich das Rad der Passagier-Erlebnisse weiter. Ein ewiger Kreislauf aus Warten, Drängeln, Ärgern und Lachen. Aber hey, ohne Passagiere gäbe es ja auch keine Flugzeuge, keine Flughäfen, keine Regionalbahnen. Und wo bliebe dann mein Beobachtungsstoff?
Der Bus-Wahnsinn
Der Bus, dieser rollende Irrgarten des Alltags, dieser Sardinen gefüllte Stahlkäfig der öffentlichen Fortbewegung. Manchmal frage ich mich, ob die Verkehrsbetriebe heimlich einen Wettbewerb veranstalten, wer die meisten Menschen pro Quadratmeter quetschen kann. Die Luft, dick und schwer, hängt wie eine ungewaschene Gardine über den Köpfen der Fahrgäste. Ein Duftcocktail aus billigem Deo, gestrigem Kaffee und latentem Angstschweiß. Köstlich.
Heute Morgen ist es besonders schlimm. Ich sitze, wie immer, strategisch ungünstig direkt am hinteren Einstieg, eingekeilt zwischen einer Dame, deren Handtasche offenbar aus gehärtetem Stahl gefertigt ist, und einem jungen Mann, der mit Kopfhörern bewaffnet zu sein scheint, aber trotzdem jedes meiner intimen Atemgeräusche mitzuteilen scheint. Großartig.
Die Türen öffnen sich mit einem gequälten Stöhnen, und eine neue Welle von Menschenmassen ergießt sich in den bereits überquellenden Bus wie eine ungefilterte Lawine. Ein älterer Herr, gebeugt unter der Last der Jahre und einer ebenso schweren Einkaufstüte, betritt den Bus. Sofort setzt in meinem Kopf das allmorgendliche Dilemma ein. Soll ich ihm meinen Platz anbieten?
Natürlich soll ich ihm den Platz anbieten. Ich bin ja kein Unmensch. Aber, und hier kommt der Knackpunkt, was, wenn er sich beleidigt fühlt? Was, wenn er glaubt, man wolle ihn als gebrechlichen Greis abstempeln? Die soziale Interaktion, dieses Minenfeld des täglichen Lebens.
Ich starre angestrengt aus dem Fenster, als ob das Studium des vorbeiziehenden Asphalts von existenzieller Bedeutung wäre. Vielleicht verschwindet der alte Herr ja einfach? Oder teleportiert sich in ein Paralleluniversum, in dem Busse leer sind und man seinen Sitzplatz in Ruhe genießen kann. Eine Utopie.
Die innere Debatte tobt weiter. „Steh auf! Zeig Anstand!“ schreit die eine Stimme in meinem Kopf. „Bleib sitzen! Du hast heute Nacht schlecht geschlafen und brauchst jede Minute Entspannung!“ konterte die andere. Es ist wie ein Parlament meiner eigenen moralischen Verzweiflung. Plötzlich räuspert sich die Dame mit der Stahlhandtasche lautstark. Ihr Blick, vernichtend wie ein Atomblitz, trifft mich mit voller Wucht. Sie flüstert, oder eher zischt: „Junger Mann, haben Sie denn keine Augen im Kopf?“ Aha! Jetzt bin ich also gezwungen. Diese freundliche Erinnerung an meine moralischen Defizite hat Wunder gewirkt. Mit einem gequälten Lächeln stehe ich auf. „Bitte, setzen Sie sich doch“, sage ich, bemüht freundlich. Der alte Herr mustert mich misstrauisch. „Sind Sie sicher? Sie sehen müde aus.“ „Ach, was heißt müde“, antwortete ich, verzweifelt bemüht, nicht wie das personifizierte schlechte Gewissen auszusehen. „Ich wollte sowieso gerade stehen.“ Eine glatte Lüge, aber was soll´s. Er setzt sich, dankt mir knurrend und vertieft sich sofort in die Lektüre einer Tageszeitung, die verdächtig nach dem gestrigen Exemplar aussieht. Meine Großzügigkeit wurde belohnt – mit Ignoranz. Wunderbar. Ich stehe wieder, meine Knie schmerzen, die Dame mit der Stahlhandtasche beobachtet mich weiterhin misstrauisch, und der junge Mann mit den Kopfhörern scheint jetzt Death Metal auf voller Lautstärke zu hören. Die Vibrationen durchdringen meinen gesamten Körper. Willkommen im Bus-Alltag.
Die nächste Haltestelle. Die Türen öffnen sich. Ein weiterer Ansturm von Pendlern. Dieses Mal betritt ein Teenager mit einer überdimensionalen Boombox den Bus. Er schaltet sie ein. Schlager. Ohne Gnade. Das Universum hasst mich offenbar. Ich sehne mich nach dem Moment, in dem ich diesen rollenden Albtraum verlassen kann. Nach der Stille meines Büros. Nach der Möglichkeit, in Ruhe atmen zu können. Aber bis dahin heißt es: Zähne zusammenbeißen, freundlich lächeln, zumindest versuchen, und hoffen, dass der Busfahrer nicht beschließt, eine Vollbremsung zu machen. Denn dann wird’s wirklich interessant.
Die Fahrt zieht sich wie Kaugummi. Jede Haltestelle ist ein neuer Akt des absurden Theaters. Eine Frau telefoniert lautstark über die intimen Details ihrer Darmspiegelung. Ein Mann führt ein Selbstgespräch über die ungerechte Behandlung durch seinen Chef. Ein Kind schreit nach einem Eis, das es nicht bekommen wird.
Endlich! Meine Haltestelle! Ich bahne mir meinen Weg durch die Menschenmenge, entschuldige mich artig und steige aus dem Bus. Tief durchatmen. Die frische Luft tut ganz gut. Und jetzt bloß nicht darüber nachdenken, dass ich dieses Schauspiel morgen wieder haben werde.
Mein Name ist Chantal Mäurer, ich bin 24 Jahre alt und eine leidenschaftliche Autorin. Meine ersten Schritte in der Welt des Schreibens habe ich bereits während meiner Schulzeit gemacht. Bislang habe ich zwei Gedichte bei der Frankfurter Bibliothek veröffentlicht, unter den Namen „Alles wird gut“ und „Tauchgang“. Weiterhin habe ich 2025 die Kurzgeschichte „Der Bote der Hoffnung“ in der Anthologie „Die Postreiter“ beim Ehrlich Verlag, die Kurzgeschichte „Die unerwartete Reise“ beim #kkl – Kunst-Kultur-Literatur Magazin und die Kurzgeschichte „Ein Tag im Frühling“ beim Herausgeber Thomas Opfermann veröffentlicht.
Von 2013 bis 2017 war ich Mitglied der Schul-AG „Die Voranschreiber“, in der wir gelernt haben, wie man Geschichten und Gedichte schreibt. In dieser AG hatte ich auch die Gelegenheit, unsere Werke den Eltern vorzulesen, was mir wertvolle Erfahrungen im öffentlichen Vortrag und in der Präsentation meiner Texte brachte.
Meine bevorzugtes Genre ist Fantasy, doch aktuell erkunde ich auch andere Genres, um meine schriftstellerischen Fähigkeiten weiter zu entwickeln und zu diversifizieren.
Derzeit arbeite ich an neuen Projekten, die meine Leser in magische und vielfältige Geschichten entführen sollen.
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