Ätherische Öle

Uta Biehl für #kkl52 „Essenz“




Ätherische Öle

Grau steht der Nebel vor den hohen Fenstern des Labors. Verschlafenheit in den sauberen Räumen, auf den weißen Tischen, über denen die Regale mit Salzen, Säuren, Pflanzenauszügen angebracht sind. Neonröhren blinken auf, ihr kühles, sachliches Licht bringt Helligkeit, bringt Mädchen, 16-, 17-Jährige, in weißen Kitteln, die übersät sind mit Löchern, Flecken von Chemikalien, dünne Metallspatel in den Taschen, das zeichnet sie aus, ist der Beweis für ihre Erfahrung, ihre Arbeit, die sie hier erlernen. Zwei bilden ein Team, teilen sich einen Tisch. „Was machen wir heute?“, fragt die eine, etwas kleiner, runder, die andere, größere, forschere. „Wir destillieren Kamillenöl. Hier, siehst du, der Plan, liegt alles in der Schublade“, und die Große, die Betti heißt, zieht die längliche Lade unter dem Labortisch auf, schieb die Zeichnung für die Destillationsapparatur der Kleinen zu, Lena, die sich unsicher, müde auf den Drehhocker davor setzt, während die andere zu den Stativen mit Klemme greift, Dreifuß und Bunsenbrenner platziert. Um sie herum herrscht reges Treiben, zwanzig Mädchen, verteilt an den Tischen, Gelächter, Gerede, Taschen, in denen Mappen und Frühstücksbrote stecken. Draußen wird es heller, der Morgendunst lichtet sich. Ein warmer Tag, die Aussicht auf Sonne, das Wochenende, Feiern, Abenteuer, doch zuvor muss das Öl gewonnen werden, das in kleinen Drüsenschuppen auf den Blättern der Blütenköpfchen lagert, für die Mädchen unsichtbar, auswendig gelernt aus Büchern, Prüfungsstoff. „Gib mir mal den Kolben und den Aufsatz“, und Lena reicht an, reicht Liebig-Kühler, Vorstoß, den Rundkolben für die getrockneten Blüten, einen weiteren zum Auffangen des Destillats, reicht Schläuche für das Kühlwasser, sieht zu, wie die Freundin alles zusammenbaut, fasst selbst mit an, befüllt das Extraktionsgefäß mit weißgelben Blümchen, Matricaria chamomilla, die sie zuvor im Vorratsraum abwiegt, während ihr der typisch würzige Geruch in die Nase steigt, sie an Hals –und Magenschmerzen erinnert. Lena untersucht Pflanzen lieber unter dem Mikroskop, schneidet, färbt an, zeichnet die unsichtbaren Muster auf Papier. Glaskolben, Feuer, Kochendes dagegen ängstigen sie, könnten verletzen, verbrennen, sich ihrer Kontrolle entziehen, wie es vor Monaten geschehen ist, der Dozentin, die unbedacht Siedesteinchen in die stille Oberfläche einer angesetzten Seifenlösung warf, dass die heiße Lauge ihr ins Gesicht spritzte. Zum Glück nur verbrannte Haut, keine Blindheit, keine bleibenden Schäden. Seltsam, dass Betti dieses drohende Gefühl nicht kennt. Schon züngelt die Flamme des Brenners, blubbert das Wasser im Kolben, zieht der Dampf durch die Kamille im Auszugskolben, das Kühlwasser läuft. „Gut so“, Frau Baltus, die Dozentin, steht vor der Apparatur, prüft, Temperatur, Verbindungsstücke, alles nach Vorschrift, „aber bis zum Mittag wird es schon dauern“, und sie nickt den beiden zu. Immer dieses Warten und Lena dreht sich auf dem Hocker hin und her. Warten auf ein Ergebnis, auf den Schulabschluss, die Prüfung, den Führerschein, den Mann, die Kinder, das Haus und alle sehen zu. Wie entsetzlich, wie langweilig! „Lena, alles klar? Ich geh mal vor die Tür“, Betti langt nach den Zigaretten in ihrer Tasche, „bin gleich zurück.“ Ach Lena, das liebe Mäuschen! Heute Abend würde Betti sie mitnehmen in die Disko, etwas Schminke, hautenges Kleid, am besten rot, das müsste doch zu schaffen sein. Sie jedenfalls weiß, was sie will und während der Rauch der Zigarette sich langsam mit den ersten Sonnenstrahlen mischt, sieht sie am Eingang zu den Hörsälen die jungen Männer stehen, die zu ihr herüber schauen. Zurück im Labor kontrolliert sie die Destillation, setzt sich zu Lena auf einen Hocker, blättert in ihren Unterlagen. Langsam verdampft das Wasser im Kolben, Tageslicht spiegelt sich im Glas, Stoffteilchen schweben in der Luft, ein leises Summen, Tröpfeln. Arme verschränkt vor der Brust, auf den Tischen, den Kopf stützend, geschlossene Augen. Einige Mädchen essen ihr mitgebrachtes Brot, obwohl es verboten ist. Vor den Scheiben liegt der Rasen, stehen die maigrünen Bäume, die sich wie ein Park dem Schulgebäude anschließen. Tulpen in Kübeln an den Wegen. Lena schaut auf, als habe sie eine Ton gehört, und da, unfassbar, ein blauer Tropfen im Auffangkolben, ein zweiter. Dieses Blau, so tief, so rein, so leuchtend! „Betti!“ Sie lachen, strahlen, es klappt, sie haben es geschafft, das Öl, das flüchtige, wird sichtbar. „Und nun, was fangen wir damit an?“ Frau Baltus steht neben ihnen: „Füllt es in ein Fläschchen oder gießt es in den Ausfluss, ist ja nur ein Winziges, ohne hohen Wert, ein Versuch. Nach dem Abräumen und Saubermachen könnt ihr gehen.“ Es ist heiß geworden im Labor, rosige Wangen, feuchte Haut. „Mach mal einer die Fenster auf“, Betti wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn und die Griffe werden gekippt. Sanft gleitet frischer Wind herein, zieht durch den Raum, nimmt den Duft der Mädchen mit sich.




Mein Name ist Uta Biehl. Ich bin Jahrgang 1955 und auf einem Bauernhof in Schleswig-Holstein aufgewachsen. Ich habe als PTA in Kiel und Hamburg gearbeitet, danach war ich Lehrerin in Kassel bis 2021. Ich schreibe seit 20 Jahren, für mich allein, in Gruppen, zur Unterhaltung, zum geistigen Tun.





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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