Cornelia Nyuszi für #kkl52 „Essenz“
Kürbiskerne
Im Spiegel sehe ich nichts. Ich stehe direkt davor, aber er zeigt nur die grimmig-weiße Fliesenwand. Das bin nun also ich: Ein körperloses, geschlechtsloses, namenloses Etwas. Das ist, was vom Menschen übrig bleibt, wenn er stirbt – aber was ist das eigentlich, was übrig bleibt? Zu sehen ist jedenfalls nichts. Ich weiß nur, ich bin da, stehe jetzt vor dem Spiegel in der Galerietoilette – ein Gespenst, das sich nicht von dem Ort lösen will, der ihm einst das Leben überhaupt ermöglicht hat. In dieser Galerie hat alles begonnen. Jetzt nimmt der Typ mit dem schmierigen Haar mein letztes Bild von der Wand.
Platz für Neues. Und ich dachte, mein Erfolg könnte durch meinen Tod noch einmal aufflackern. Ich wende mich vom Spiegel ab. Da spüre ich, dass es gleich wieder passieren wird, ein Gefühl, als würde die Sonne aufgehen – die Tür wird sich öffnen. Die Tür, die auf einmal aus dem Nichts erscheint und ins nächste Leben führt. Ein Neuanfang. Die ersten Strahlen kriechen durch den Spalt, zuerst wirken sie weiß, doch dann leuchten sie in allen Farben, die Atmosphäre wie ein Frühlingsmorgen, warm und gleichzeitig erfrischend. Aber die Nacht war mir schon immer lieber. Ich schwebe durch die Wand zurück in die Galerie.
Vor ein paar Tagen noch wäre ich durch die geöffnete Tür ins nächste Leben gegangen. Aber dann habe ich einmal so richtig darüber nachgedacht. Was ist, wenn ich als Wurm wiedergeboren werde? Haben Würmer ihre eigene Kunst? Die Art, sich durch die Erde zu winden vielleicht? Würmerkunst. Wie soll mir das je genug sein?
Der Typ mit dem schmierigen Haar geht an mir vorbei. Einst war er mein Freund und Unterstützer. Ich erinnere mich, Johannes heißt er – mein Galerist. Er zieht ein Säckchen Kürbiskerne aus der Tasche. Aus ihnen hätten Kürbisse wachsen können, aber er verschlingt sie ohne nachzudenken, ein Kern nach dem anderen verschwindet in seinem nicht befriedigbaren Schlund. Die Idee für ein Bild kommt mir, aber meine Zeit den Malens ist vorbei. Mir bleibt nur die Gespensterkunst. Johannes, du hungriger Geschäftsmann, ich werde dich eine Form der Furcht lehren, die du bis jetzt nicht gekannt hast. Du hast vielleicht deinen Glauben an mich verloren, aber am Ende wirst du noch an Gespenster glauben!
Ich beginne meinen Spuk, indem ich ihm in den Nacken puste. Seine feinen Härchen stellen sich auf. Ich lasse das Licht flackern. Eine schöne Kombination, finde ich. Nun die letzte Note – und die soll wirklich klingen: ich gebe ein gespenstisches Stöhnen von mir. Johannes fährt sich mit der Hand über den Nacken, blickt sich um, flucht über das Licht und die lauten Nachbarn. Daraufhin zieht er das Handy aus der Tasche und macht einen Anruf.
Nicht gut genug. Na ja, war ja auch nur der erste Versuch. Aber wie hübsch wäre es, wenn ich durch meinen Spuk berühmt werden würde. Der Geist in der Wiener Galerie! Ich muss mich mehr anstrengen. Wie war das nochmal zu Beginn, im Leben damals? Wie habe ich meinen Stil gefunden? Wie bin ich zu meinen Ideen gekommen?
Ich lasse mich eine Weile von den Ameisen am Fensterbrett ablenken. Die Unterhaltungsmöglichkeiten in der Galerie, die in letzter Zeit nur spärlich besucht ist, sind nicht gerade vielfältig, weshalb ich großes Vergnügen daran finde ihnen zuzusehen. So verbringe ich den Rest des Tages, ohne produktiv zu sein und kurz nach neunzehn Uhr sperrt Johannes zu. Ärgerlich, aber ich habe ja alle Zeit der Welt. Ein so wunderbarer Vorteil, der auf Erden nur den Gespenstern vergönnt ist.
Nachts verrücke ich alle Bilder, sodass sie leicht schief hängen. Ich verschiebe, mit großer Mühe, die hässlichen Skulpturen meiner lieben Kollegin. Im Büro hinterlasse ich wilde Tintenfahrer über den Lieferscheinen – mehr schaffe ich nicht, denn der Stift gleitet mir immer wieder aus dem, was einst meine Hand war.
Aber am nächsten Tag ist Johannes so sehr mit Telefonieren beschäftigt, dass ihm das alles nicht auffällt. Die Kürbiskerne in seiner Tasche rascheln, während er unruhig auf und ab schreitet. Ich höre ihm bei seinem Gespräch zuerst nicht richtig zu, bis er ein Wort von sich gibt, das mich zusammenfahren lässt: „Insolvenz.“
Ich lausche weiter und erfahre, dass Johannes die Galerie schließen muss. Wie hatte ich davon nichts mitbekommen können? Ich glaube zu sehen, wie ihm eine Träne vom Lid fällt. Zu recht, meine ich, denn er hat versagt, mehr noch als ich. Mit Geld und Zahlen umzugehen ist um so vieles einfacher als sich einen Namen als Künstler oder Künstlerin zu machen.
Ich folge Johannes in die Toilette, wo er sich das Gesicht wäscht. Wenn die Galerie bald schließt, rennt mir die Zeit davon. Wer weiß, wer hier als nächstes einziehen wird? Vielleicht ein dämlicher Souvenirshop wie nebenan, ganz und gar unwürdig für meine Gespensterkunst.
Ich stelle mich hinter Johannes und warte, bis er sich wieder aufrichtet. Diese Wut – auf ihn, auf mich, auf die Welt, die mich nie richtig gesehen hat und sich weiter vehement weigert, es zu tun – sie muss aus mir raus! Ich starre ihm im Spiegel in die Augen, möchte ihn mit meinem Blick zerreißen, diesen unfähigen Stümper. Da zucken seine Pupillen – er sieht mich! Nur für einen Moment, aber er schreckt zurück. Die Kürbiskerne fallen ihm aus der Tasche auf den Boden. Er stürmt aus der Toilette.
Einen gehörigen Schrecken habe ich ihm da eingejagt. Aber der Frieden, so wie ich ihn damals beim Malen verspürt habe, bleibt aus. Ich betrachte die Kürbiskerne, schiebe sie etwas herum. Wie habe ich früher meine Werke erschaffen? Der Prozess war wirr gewesen. Ich habe die Formen immer erst im Tun gefunden, habe viel verwischt oder ganz übermalt. Es war wohl eher ein Suchen, ein Werden, ein Vordringen ins Unbekannte.
Ich schwebe zu Johannes. Er sitzt im Büro mit einem Glas Wein in der Hand und starrt ins Nichts. Die Tränen laufen ihm nun in Strömen über die Wangen. Er zittert. Ich habe schon so lange nicht mehr geweint, aber ich weiß noch genau, wie es sich anfühlt. Armes Menschenkind. Irgendwo sehe ich mich selbst in dir, so wie ich einmal war. Vielleicht ist es das, was übrig bleibt von mir. Das, was ich jetzt in dir sehe. Die Essenz von etwas, das wir alle sind.
Ich lege ihm die Hand auf die Schulter. Er spürt es nicht, aber für mich fühlt es sich an wie der letzte Pinselstrich. Am liebsten würde ich auf diesen Moment meine Signatur setzen. Ich, Johannes, seine Tränen, die meine Tränen sind, wir, mit allem verbunden, suchend, werdend, vordringend.
Da läutet das kleine Glöckchen an der Eingangstür. Ein Mann mit dickem Bauch und Glatze betritt die Galerie. Johannes wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht, springt auf und eilt ihm entgegen. Der Mann sucht nach einem bestimmten Werk von Rune Katić. War das einmal mein Name? Ich bin mir nicht mehr sicher. Er ist ohnehin irrelevant. Was ich hinterlasse, war schon immer da und wird immer sein.
Ich spüre Sonnenstrahlen im Nacken und drehe mich um. Weißbuntes Licht strahlt mir entgegen. Die Tür ist geöffnet. Diesmal schwebe ich hindurch, dringe vor ins Unbekannte. Denn auch wenn sich alles ändert, die Suche geht stets weiter.
Cornelia Nyuszi
Cornelia, Jahrgang 1992, lebt in Wien, wo sie für einen Verlag als Content Creator arbeitet. Sie studierte Film-, TV- und Medienproduktion an der FH des BFI Wien. Während eines zweijährigen Irlandaufenthalts besuchte sie Vorlesungen zu Kreativem Schreiben am Dublin Institute of Technology. Für den Verein culture fly verfasste sie zahlreiche Kindertheaterstücke und als Co-Autorin das Drehbuch für den Spielfilm Taaoras Lied – Hinter den Mauern der Stille (2017). Auf TikTok und Instagram spricht sie unter dem Pseudonym Cornelia Nyuszi über Klassiker und die Themen ihres Debütromans (@cornelia_nyuszi, @portraitofcornelia).
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