Elisabeth Stritzl für #kkl52 „Essenz“
Die Schaumkrone
Schon seit Stunden starrt Emma auf die alte, zerknitterte Landkarte, die vor ihr auf dem Tisch liegt. Immer und immer wieder fährt sie mit ihren Fingern die schwarzen Linien entlang. Da und dort wollten sie gemeinsam hin. Der Norden Italiens und längst vergessene Sehnsüchte breiten sich in und vor ihr aus. Sanft versucht sie, die alte Karte zu glätten. Sie zeigt ein Straßennetz. Leicht müffelnd hängt sie über die rechte Tischkante und verdeckt das Kuvert, das unverschlossen darunter liegt.
Emma stellt sich vor, wie die Karte, sollte sie je wirklich zum Einsatz kommen, die ganze Motorhaube abdecken würde. Aus Filmen weiß sie, dass auf einer Reise verlässlich der Moment kommt, in dem die Reisenden fuchtelnd vor ihrem Auto stehen und die Karte auf dem überhitzten Blech festklebt. Auf der Proseccostraße im italienischen Veneto, umrahmt von sanften Hügeln, steigt süßliches Kühlmittel auf. Chemie liegt in der Luft. Und der Streit über den richtigen Weg und das längst überholte Navigationsgerät des Autos erfüllt die Auszeitsuchenden. Wer die Schuld am nicht gemachten Update trägt, bleibt meist ungeklärt.
Es macht den Anschein, als ob die geraden Striche überwiegen. Aber Emma weiß, dass das nicht sein kann. Sie denkt an die Stationen ihres Lebens. An Francesco. Seine tiefbraunen Augen. Sein markantes Gesicht. An den Zug, der sie zu ihm gebracht hat und an den Augenblick, in dem sie erkannt hat, dass sie auf den falschen Gleisen fährt. Einen Irrweg geht. Ausgestiegen ist, um dann doch wieder in denselben Zug einzusteigen und einer weiteren Enttäuschung entgegenzufahren. Eine gerade Linie, ein leicht nachvollziehbarer Weg.
Sie sieht sich in ihrem Wohnzimmer um und sucht nach den Geraden. Viel zu viele rechte Winkel stechen ihr ins Auge. „Darum mag ich die Natur so gern und den Wald“, denkt Emma, und streift sich eine rotbraune Locke aus ihrem rundlichen Gesicht. „Weil es dort so wenig rechte Winkel gibt. Alles ist krumm und schief und voller Abzweigungen wie im Leben.“
Es heißt Lebenslauf, wenn man das eigene Leben beschreibt, in ein Kuvert stopft und jemandem sendet, der genau von dem Leben im Kuvert keine Ahnung hat. Auf dem Blatt Papier stehen nämlich nur die rechten Winkel des Lebens. Sie erinnert sich an die Beerdigung einer ihrer Tanten. Daran, wie der Lebenslauf vorgelesen wurde. Geboren am, zur Schule gegangen in, gestorben weil. Aus.
Sie hätte sich gewünscht, das nicht hören zu müssen. Inständig hofft sie, dass bei ihrer eigenen Beerdigung auch das Grau zwischen dem Schwarz und Weiß verlesen werde. Sie hat bereits einige Male überlegt, sicherheitshalber ihren Lebenslauf selbst zu schreiben und in einem Ordner namens Beerdigung abzuspeichern. Nur weil man für diese Momente vorbereitet ist, stirbt man noch lange nicht. Vorbereitung hat noch keinen umgebracht. Abgesehen davon, bevorzugt sie das Wort Lebensweg. Lebenslauf scheint ihr ein anstrengender Begriff zu sein. Von der eigenen Geburt bis zum Tod laufen, stellt sie sich stressig vor. Gibt es eine Smartwatch, die so viele Schritte zählen könnte?
Emma holt das Kuvert unter der Karte hervor und schlägt mit ihrer Faust fest darauf. Einmal aufs Leben gehaut. Geplättet. Auch wenn es nicht eine Falte hat. Dieses Mal soll alles glatt verlaufen. Sie werde von Anfang an dafür sorgen. Glatt schreibt man deshalb mit zwei harten „t“, damit das Hintere das Vordere bedrängt, presst und glatt drückt.
„Leider kann ich dich in Zeiten wie diesen nicht mehr beschäftigen, ich muss meinen Laden schließen, und der Steuerberater hat mir empfohlen, dich zu entlassen.“ Emma kann im ersten Moment nichts sagen. Stumm sieht sie ihrer Chefin in die Augen.
„Aber ich, wie soll ich, aber warum?“ Sie findet die richtigen Worte nicht. Auch der Schluck Wasser ändert nichts. „Wie soll das gehen? Wie soll ich das schaffen?“ „Du musst gut wirtschaften. Sparen. Brav kochen und nicht auf Urlaub fahren.“ Emma merkt, wie Wut in ihr hochsteigt. Während andere Menschen in ihrer Umgebung, Verwandtschaft, Nachbarschaft, ihre Kollegen, gefühlt einfach alle, ständig auf Urlaub sind, steht genau sie zu Hause am Herd und kocht. Geht nicht in feinen Restaurants das fünfte Mal zum Buffet, um sich dann am Tisch über die doch eher wohl kleine Auswahl zu beklagen und den Orangensaft zu kritisieren, bei dem der Fruchtanteil wohl gelogen ist. So eine ist – genau sie – nicht.
Nein, sie steht am Herd. Heute, gestern und morgen und kocht. Für sich allein und für ihre Großeltern, die im zweiten Stock des Hauses wohnen. Ihre Großmutter würde nie zugeben, dass ihr die Kraft zum Kochen fehlt.
Bescheiden und zufrieden. So würde sie sich bezeichnen. Ihr braucht man nicht den Tipp geben, dass sie kochen solle, um Geld zu sparen. Sie spürt, wie ihr Gesicht rot wird, ihr Körper erhitzt. Sie könnte platzen. Was die Chefin sonst noch alles von sich zu geben hat, weiß sie nicht mehr. Sie ist im Standby-Modus. Nicht bereit für weitere gute Ratschläge. Zittrig unterschreibt sie die Kündigung. Als sie im Auto sitzt, wird ihr bewusst, dass sie nun arbeitslos ist. Einvernehmlich hat man sich getrennt.
Als sie nach Hause kommt, ist alles wie immer, und solange sie niemandem etwas erzählt, ist heute wie gestern. Sie weiß, dass diese Strategie nicht von Dauer sein kann. Aber für den Moment, nur bis sie sich selbst gefasst hat. Solange behält sie alles für sich. Das macht sie immer so. Und damit ist sie bis heute gut zurechtgekommen.
„Ich werde diese Straßenkarte bügeln“, überlegt Emma. Das Weinglas, das sie auf der Karte abgestellt hat, wackelt. Daneben liegt der kuvertierte Lebenslauf. Sie würde sich selbst nicht einstellen. Keine Highlights, keine besonderen Talente, keine Meilensteine. Eine lieblos geschriebene, fade Auflistung von Daten und Fakten, ausgedruckt, zusammengelegt und in den Umschlag gepresst und das mit gefletschten Zähnen vor Wut, Ärger und Trauer.
Emma klebt den Brief zu. Sie trinkt einen Schluck Rotwein. Und dann trinkt sie noch einen Schluck, einen noch größeren. Das sich leerende Weinglas wackelt noch mehr. „Wie mein Leben“, denkt Emma. „Leer und instabil.“
Eine Situation, unter der man leidet, sollte man verlassen oder annehmen. Leicht gesagt, aber wie macht man das? Wieder fällt ihr Blick auf die Straßenkarte, auf das nun leere Glas und den Brief.
Als Emma fast schon übel wird, weiß sie plötzlich, was zu tun ist. Sie nimmt den Brief und zerreißt ihn. Einmal, zweimal, dreimal. In Windeseile ist der Boden mit Schnipsel übersät. Das Weinglas fliegt an die Wand. Die Scherben liegen nun zwischen den Papierfetzen. Der letzte Tropfen Rotwein verteilt sich langsam über ihren Lebenslauf wie ein Blutfleck. Fließt über vier Jahre Volksschule, Mittelschule und die Verhaltensnote.
Emma setzt sich auf den Boden. Sie zieht die Straßenkarte vom Tisch herunter und hält sie wie eine Zeitung vor ihr Gesicht. Sie atmet den modrigen Duft tief ein.
Es klopft leise an der Tür. Ihre Großmutter möchte wissen, ob etwas passiert sei. „Ja“, gibt Emma zur Antwort. „Es ist etwas passiert, endlich ist etwas passiert.“ Weitere Fragen stellt ihre geliebte Großmutter nicht. Sie weiß schon lange, dass es der Lebenslauf ihrer Enkelin ist, der endlich ein Lebensweg werden müsse.
„Ab heute gehe ich, ich renne nicht, ich gehe. Setze einen Schritt vor den anderen, blicke nur dann zurück, wenn ich sehen will, ob hinter mir meine Schritte zu sehen sind. Sind sie das nicht, hinterlassen sie keine Spur und sind des Gehens nicht würdig. Dann gehe ich sie erneut, bis sie meine Schritte sind“, spricht Emma zu sich selbst. Stolz lächelt sie über ihren philosophischen Geistesblitz.
„Bis jetzt war mein Leben Stillwein. Zwei Gärungsprozesse braucht es, um Prosecco daraus zu machen. Es sprudeln zu lassen. Hunderte kleine Perlen sollen an der Oberfläche zu einer Schaumkrone werden, umhüllt von Zitrusduft und Lebenslust.“
Emmas Finger streichen wieder über die Karte. Dorthin, wo die größte Falte ist, soll es als Erstes gehen, und zwar nicht, um die Falte auszubügeln, sondern um ihre Furche zu vertiefen. Tiefe Falten braucht das Leben. Und in ein Kuvert darf es nicht passen. Dann kann man es niemals aufgeben.

Mein Name ist Elisabeth Stritzl.
Ich bin in Rauris geboren und habe in Salzburg Literaturwissenschaften sowie Anglistik/Amerikanistik und Romanistik studiert.
Ich unterrichte am Gymnasium Seekirchen am Wallersee Italienisch und Englisch.
Privat darf ich das Abenteuer einer Patchworkfamilie erleben, die aus zwei Jungen und zwei Mädchen besteht. Selbst in eine große Familie hineingeboren, habe ich früh bemerkt, dass ich es liebe, Menschen, ihre Aussagen und Handlungen zu beobachten und meine Gedanken zu Papier zu bringen. In die Welt des Schreibens einzutauchen, ist mir immer wieder ein tiefes, innerstes Bedürfnis.
Kürzlich wurde im Literaturmagazin DUM meine Kurzgeschichte „Ist einmal der Wurm drin“ veröffentlicht.
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