Eine Phiole voller Träume

Giuliano La Pedalina für#kkl52 „Essenz“




Eine Phiole voller Träume

Fünf Minuten. Ganze Fünf Minuten, bis die nächste U-Bahn kommt. Markus blickt gestresst auf seine Uhr. „Es wird sich schon ausgehen“ denkt er sich. Das denkt er sich immer, doch manchmal wäre es auch schön etwas mehr Zeit zu haben. Doch was tut man mit 5 Minuten mehr in der Arbeit? Nein, so wie Markus es macht, ist es richtig, schließlich verspätet er sich ja nicht. Zumindest nicht heute. Er hat später noch ein Date. Er ist etwas nervös. Jetzt kommt sie endlich, die U6 Richtung Floridsdorf. Die Türen öffnen sich und der Geruch von Döner strömt Markus entgegen. Nicht, dass es ihn stört, Markus ist nicht die Sorte Mensch, welche ein Geruch von Essen stören würde, schon gar nicht von Döner. Markus liebt Döner. Ein weiterer Blick auf die Uhr, fünf Minuten später als zuvor.

Manchmal geht es Markus nicht gut. Manchmal fühlt er sich schlecht, wenn ihm gute Dinge passieren. Als hätte er sie nicht verdient. Oft sieht er Dinge an, ganz genau, und kann sie einfach nicht begreifen. Sowie das Fahrrad im Eingangsbereich der U-Bahn oder das TikTok, das er sich gerade am Handy ansieht. Er versteht nicht, was er verstehen soll. So wie damals, den Sarg in der Aufbahrungshalle. Mahagoni. Die Tränen seiner Mutter. Das Blumengesteck. Er versteht es einfach nicht. Es war so leise als der Sarg mit einem kleinen, elektrischen Auto zum Grab gefahren wurde. Nur die Vögel zwitscherten und die Bäume wehten im Wind. Damals hatte er dieses Gefühl zum ersten Mal, seitdem weiß Markus, wann es ihm nicht gut geht. Heute ist wieder einer dieser Tage.

Endlich, Spittelau. Flott verlässt Markus den Zug und geht die Treppen hinunter, am Weg zum Ausgang, die üblichen Eindrücke: Lärm, Durchsagen, Menschen in Eile, einer rennt sogar, ein Bettler liegt bewusstlos am Boden, der Geruch vom Imbiss. Stopp. Markus bleibt stehen und dreht sich um. „Was macht der Bettler da?“ denkt er sich. Er kommt dem Mann näher, er liegt auf seiner rechten Schulter und sieht ziemlich mitgenommen aus. „Atmet er überhaupt noch?“ Markus bückt sich zögerlich und rüttelt den Mann. „Hallo! Können Sie mich hören!!“ Der Mann öffnet seine Augen leicht und beginnt etwas zu murmeln. Markus ist erleichtert über die, doch etwas dürftige, Rückmeldung und packt den Mann unter den Schultern. Kraftvoll hebt er ihn auf eine Bank dahinter und versucht ihn etwas aufzurappeln. „Brauchen Sie etwas? Haben Sie Hunger?“. Der Mann nickt bloß und lächelt dabei sanft. Markus ist nun wieder voll konzentriert, er weiß was zu tun ist. Er deutet dem Mann „Gib mir ein paar Minuten“ und kommt ein paar Minuten später zurück. In der linken Hand, eine Flasche Fanta, in der rechten, ein Bosna. Er reicht dem Mann die Köstlichkeiten: „Hier Bitte.“ Voller Freude nimmt er sie entgegen, seine Augen blitzen auf: „Ich danke Ihnen! Vielen, vielen Dank!“ Markus ist überrascht über den plötzlichen Enthusiasmus, schließlich dachte er zuerst, der Mann sei dem Tode nahe. Noch mehr überrascht zeigt er sich als der Mann ihm eine kleine, gläserne Phiole, gefüllt mit einer violetten Flüssigkeit, entgegen streckt. Markus zögert. Er weiß, dass man keine Phiolen mit seltsamen Flüssigkeiten von Fremden annimmt. „Bitte, bitte, greifen Sie zu“, insistiert der Mann „es ist ein Geschenk“. „Was soll das denn sein?“. Der Mann räuspert sich und redet weiter, in einer heiseren Stimme. „Glauben Sie mir, diese Essenz wird Ihre Fragen beantworten. Sie werden verstehen.“ Misstrauisch nimmt Markus das Geschenk an.

Markus hat seine Uhr gar nicht mehr im Auge. Muss er auch nicht, er sitzt jetzt nämlich im Büro seines Chefs. „So kann das nicht weitergehen.“, kriegt er zu hören. „Sie kommen viel zu oft zu spät, wissen Sie überhaupt wie viel Sie dieser Firma kosten!?!“ Das Übliche halt. Schon liegt die Kündigung am Tisch und bald darauf auch seine Unterschrift. Heute war ein kurzer Arbeitstag, keine ganze Stunde ist vergangen und Markus ist schon wieder bei der U-Bahn-Station angekommen. Lärm, Durchsagen, Menschen in Eile, alles gleich. Doch eine Sache fehlt. „Wo ist der Mann hin?“, überlegt Markus, als er vor der Bank steht. Leicht demoralisiert, kommt Markus zuhause an. Gedanken über seine Zukunft fasst er nicht, zumindest nicht die Zukunft, welche über den restlichen Tag hinausgeht. Er will einfach nur schlafen, den Tag beenden. Er setzt sich auf sein Bett und will sein Handy aus der Hosentasche holen, dann fällt ihm die Phiole ein. Er holt sie vorsichtig aus seiner heraus und betrachtet sie skeptisch. Doch Markus war schon immer neugierig. Langsam löst er den kleinen Korken vom Glas und mustert die Flüssigkeit. „Einmal kurz schnuppern kann ja nicht schaden.“, denkt er sich, bewegt das Gefäß langsam zur Nase und riecht kurz daran. Autsch! Seine Nase beginnt fürchterlich zu brennen. Plötzlich dreht sich alles. Markus weiß nicht wie ihm geschieht. Der Schmerz lässt allmählich nach und er legt sich hin. Er schlägt leicht auf seiner Nase herum, versucht den Geruch hinauszubekommen, aber er merkt, wie er immer müder und müder wird. Seine Augen schließen sich.

Markus wacht langsam wieder auf. Er liegt auf einer Wiese, hinter einem Hügel. Das Gras ist noch nass und saftig grün. Morgentau. „Hallo! Kannst du mich hören?!“, hört Markus eine Stimme hinter dem Hügel rufen. Er will aufstehen, aber ist viel zu schwach. „Wo bin ich hier?!“. Seine Beine schmerzen und ihm ist schwindelig. Kurz darauf bekommt er die Antwort zugerufen: „Das weißt du doch, sieh dich um!“ Markus setzt sich, mit viel Mühe, etwas auf. Hinter ihm sind nur ein paar Bäume und eine Holzbank mit einem Tisch, sonst nichts. Doch die Gegend kommt ihm bekannt vor. „Wer bist du überhaupt!!“, ruft er erneut über den Hügel. Erneut versucht er aufzustehen, aber es gelingt ihm nicht. „Ist es schon so lange her?“, antwortet die Stimme. Markus überlegt. Er sieht, wie sich langsam jemand über den Hügel nähert, kann aber nicht genau erkennen, wer es ist. Die Person kommt immer näher, es ist ein Mann. Markus packt die Angst. Was will diese Person von ihm? Markus will nicht sterben. Markus liebt doch das Leben. Auf seinem Rücken liegend versucht er sich umzudrehen, wie eine Schildkröte. Er will die Flucht ergreifen. Der Mann steht nun hinter ihm: „So lange, dass du die Stimme deines Vaters vergessen hast?“.

Man sagt immer eine Person ist erst dann richtig gestorben, wenn keiner mehr über sie spricht. Wenn sich keiner mehr an sie erinnert. Doch was bedeutet es, wenn man die Stimme einer Person vergisst, die man über alles geliebt hat? Markus und sein Vater sitzen sich gegenüber auf der Bank. Jetzt weiß er wieder, wo er ist. Die grüne Wiese, der Hügel, die Bank. Es ist sein alter Hof, dort wo er aufgewachsen ist, wo er unzählige Erinnerungen gesammelt hat. Auch diesen Ort hat er vergessen. Markus hat die Vergangenheit hinter sich gelassen, zu viel Schmerz. Er wollte vergessen. Wegrennen. Doch er hat es nicht geschafft. Die Vergangenheit hat ihn eingeholt und sie sitzt gerade vor ihm.

„Du hast heute etwas Gutes getan.“, bricht der Vater die Stille. Markus kann ihm noch nicht in die Augen sehen. „Du bist ein guter Mensch Markus.“ Er blickt kurz auf, traut sich nun seinem Vater in die Augen zu sehen. Er sieht noch genauso aus wie in seinen Erinnerungen. „Du hast gute Dinge verdient, Markus. Du hast es verdient glücklich zu sein.“ Mit ihm passieren merkwürdige Dinge. Sein Herz beginnt schneller zu schlagen. Alles kribbelt. Sein Gesicht verzieht sich. Weint er etwa? Er hat lange nicht mehr geweint. Zuletzt vor dem Sarg seines Vaters. Jener steht jetzt von der Bank auf und umarmt Markus. Ganz fest. Aus seinen Augen fließen die Tränen in Strömen. Er fühlt sich sicher in den Armen seines Vaters. „Ich bin so stolz auf dich.“, flüstert ihm sein Vater ins Ohr. „Ich hab dich lieb“.

Markus wacht auf. Er liegt noch immer in seinem Bett. Schnell richtet er sich auf und durchwühlt panisch sein ganzes Zimmer. Die Phiole ist weg. Ob das alles ein Traum war? Er schaut auf die Uhr, in einer Stunde ist er verabredet. Eigentlich sollte er noch nervös sein, doch er ist es nicht.  Eigentlich sollte er noch dieses unbehagliche Gefühl vom Vormittag haben, doch er hat es nicht. In seinem Traum fühlte er sich erfüllt. Wertvoll. Geliebt. Seitdem weiß Markus, wann es ihm gut geht, heute ist einer dieser Tage.




Giuliano La Pedalina

  • Geboren am 06.12.2004 in Graz
  • Seit Oktober 2024 Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaften in Wien
  • Ehrenamtliches Engagement beim Roten Kreuz Graz
  • Kunst- & Literaturbegeistert, Erfahrung im Filmbereich (Drehbuch & Regie), Erste Kinofilm-Premiere Mai 2025
  • Passionierter Geschichtenerzähler





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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