Seelenlicht

Udo Brückmann für #kkl52 „Essenz“




Seelenlicht – Eine buddhistische Geschichte

Im Nirgendwo des kargen Hochlands ragten die dicken Mauern eines uralten buddhistischen Klosters aus dem Gebirge in den Himmel und schienen dabei fast die Wolken zu berühren, die wie eine erdrückende Last über der Landschaft hingen. Und dennoch sollte es ein erhabener Tag werden, auch wenn es anfangs nicht danach aussah.

„Die Wirkungen folgen den Ursachen, so wie die Räder eines Karrens den Füßen der Ochsen folgen“, zitierte der Meister Rinpoche Vivek Roshi aus einem der heiligen Texte. Die Stimme des alten Mannes klang gleichförmig und niemals belehrend – gleich einem wohlwollenden Mantra.

Sandeep nickte respektvoll und wirkte in sich gekehrt. Er war der einzige Schüler, der vor einigen Monaten als Novize in das Kloster gekommen war. Den jungen Mönch plagten seit eh und je Ängste und Zweifel, eine stetige Anspannung war ihm ins Gesicht geschrieben. Trotz all der Gebete, Rituale und Meditationen.

Er zupfte sein dunkelrotes Gewand zurecht, um besser sitzen zu können.

„Die Wirklichkeit ist das, was wirkt“, fuhr der Meister fort, „sie versteht nur das, was du fühlst, nicht was du denkst oder sagst.“

„Dann habe ich die Wirklichkeit also ständig in mir?“, fragte Sandeep.

„Nein“, lautete die Antwort. „Nur in der Realität liegen sämtliche Ursachen.“

Der junge Mönch verstand nicht, fragend blickte er um sich.

„Die Wirklichkeit“, so Rinpoche weiter, „ist nur der Spiegel deiner äußeren Welt. Er zeigt dir dein Schicksal, dass sich im Außen nicht mehr ändern lässt, denn es ist bereits geworden.“

Sandeep öffnete den Mund, als wolle er darauf antworten, ließ es aber sein.

„Die Realität jedoch ist nicht die Wirklichkeit“, sagte der Meister, „sie ist der Brunnen aller Ursachen in dir, die Verbindung mit der Quelle.“

„Dann sind Realität und Wirklichkeit gar nicht dasselbe?“, fragte Sandeep und runzelte die Stirn.

„Ganz genau. Die Realität bestimmt die Wirklichkeit als Ergebnis von dem, was du in deiner Vergangenheit bereits ausgestrahlt hast. Ob nun vor einer Minute oder vor einem Jahr. Du allein bist für dein Schicksal verantwortlich.“ Rinpoche machte eine kurze Pause, um das Gesagte hervorzuheben. „Niemals bist du in deinen Handlungen von anderen Menschen, von anderen Seelen getrennt, denn du agierst wie eine Welle im unendlichen Ozean, verbunden mit allem, was ist. Wäre dem nicht so, dann wärst du lediglich eine Portion Wasser.“

Der junge Mönch musste lachen. Er strich sich mit einer Hand über den kahl rasierten Schädel. „Dann kann ich meine Zukunft ändern, indem ich die Realität in mir verändere, welche die Wirklichkeit formt?“

Das Gesicht des Meisters hellte sich auf. „So ist es! Wie innen, so außen. Und was du säst, das wirst du ernten. Doch bedenke: Die verwirklichende Kraft ist das Gefühl, aber nur dann, wenn Körper und Geist eine gelebte Einheit bilden: Fühlen und Denken, Herz und Hirn vereinen sich in den beiden Kammern der Kristalle. Sobald auch nur der leiseste Zweifel daran aufkommt, ist der Fluss der Schöpfung unterbrochen, als habe jemand absichtlich einen Stock in eine Gebetsmühle gesteckt.“

„Aber wie…, wie mache ich das?“, wollte Sandeep wissen. Sein Kopf begann zu glühen und sein Herz wurde weit.

Rinpoche Vivek Roshi fokussierte sich mit seinem ganzen Wesen auf den einen Schüler. „Indem du zu dir selbst erwachst und endlich aufhörst zu schlafen! Du bist nicht dein Körper, du bist nicht dein Verstand, ja nicht einmal deine Persönlichkeit. Du bist reines Bewusstsein, der Träger des Lebens und all seiner unendlichen Möglichkeiten. Du warst es schon immer, du bist es jetzt und du wirst es immer sein.“

„Ich bin…“, entgegnete Sandeep, doch der Meister unterbrach ihm abrupt.

„Halt! Damit ist alles gesagt, denn du hast alles erkannt.“

An diesem Abend stieg eine kleine Laterne – aus Reispapier mit einem brennenden Docht in geschmolzener Yak-Butter – wie beiläufig in den Himmel und erhellte die Wolken, durch die sie hindurch zog, aus der Illusion der Wirklichkeit hinein in die Ewigkeit des Einen Seins.




Udo Brückmann, geb. 1967, lebt als Autor, Dozent und Coach im ländlichen Niedersachen. Zahlreiche Veröffentlichungen: Romane (Fantasy, Krimi, Historie), Kurzgeschichten, Lyrik, Gedichte für Kinder u.a. Alle Infos auf der Webseite https://www.udo-brueckmann.de/







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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